Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten. Geltungsbereich. Begriff ‚besonderer einzelstaatlicher Gesetzgebungsakt’. Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Bestandskräftige Genehmigung. Nachträgliche gesetzliche Heilung des Unterbleibens einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Grundsatz der Zusammenarbeit
Normenkette
Richtlinie 85/337/EWG; EUV Art. 4; Richtlinie 2011/92/EU
Beteiligte
Niederösterreichische Landesregierung |
Tenor
Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in der durch die Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er ein Vorhaben, das unter eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche fällt, nach der ein Vorhaben, das Gegenstand eines unter Verletzung der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergangenen Bescheids war, in Bezug auf den die Frist für die Nichtigerklärung verstrichen ist, als rechtmäßig genehmigt gilt, nicht vom Geltungsbereich der Richtlinie ausnimmt. Das Unionsrecht steht einer solchen Rechtsvorschrift entgegen, wenn sie vorsieht, dass bei einem solchen Vorhaben eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung als durchgeführt gilt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 25. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 2015, in dem Verfahren
Stadt Wiener Neustadt
gegen
Niederösterreichische Landesregierung,
Beteiligte:
.A.S.A. Abfall Service AG,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.-C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und S. Rodin,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Stadt Wiener Neustadt, vertreten durch Rechtsanwalt E. Allinger,
- der A.S.A. Abfall Service AG, vertreten durch Rechtsanwalt H. Kraemmer,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und C. Hermes als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 1985, L 175, S. 40) in der durch die Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 (ABl. 1997, L 73, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 85/337), von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stadt Wiener Neustadt (Österreich) und der Niederösterreichischen Landesregierung über die Rechtmäßigkeit des Bescheids, mit dem die Landesregierung feststellte, dass der Betrieb einer Ersatzbrennstoffaufbereitungsanlage durch die A.S.A. Abfall Service AG als genehmigt gelte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, lautet:
„Gegenstand dieser Richtlinie ist die Umweltverträglichkeitsprüfung bei öffentlichen und privaten Projekten, die möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt im Wesentlichen in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie sind:
…
Genehmigung:
Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält.”
Rz. 5
Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt im Wesentlichen in Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, lautet:
„Diese Richtlinie gilt nicht für Projekte, die im Einzelnen durch einen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt genehmigt werden, da die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele einschließlich des Ziels der Bereitstellung von Informationen im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden.”
Rz. 6
Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.”
Österreichisches Recht
Rz. 7
§ ...