Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Bestandskräftige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat. Flüchtling, der sich nach dieser Zuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat aufhält. An den Aufenthaltsmitgliedstaat gerichtetes Auslieferungsersuchen des Herkunftsdrittstaats des Flüchtlings. Wirkung der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen des Auslieferungsverfahrens. Schutz des Flüchtlings gegen die beantragte Auslieferung
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 21 Abs. 1; Richtlinie 2013/32/EU Art. 9 Abs. 2-3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 18, 19 Abs. 2
Beteiligte
Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Demande d’extradition d’un réfugié vers la Turquie) |
Tenor
Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in Verbindung mit Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
in dem Fall, dass ein von einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannter Drittstaatsangehöriger in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, Gegenstand eines Auslieferungsersuchens seines Herkunftslands ist, der ersuchte Mitgliedstaat die Auslieferung nicht zulassen darf, wenn er nicht einen Informationsaustausch mit der Behörde, die der gesuchten Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, eingeleitet und diese Behörde die Flüchtlingseigenschaft nicht aberkannt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-352/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Hamm (Deutschland) mit Beschluss vom 19. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 2022, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von
A.,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Hamm,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič und J.-C. Bonichot, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis und A. Kumin, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von A., vertreten durch Rechtsanwälte H.-J. Römer und U. Sommer,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. G. Pintus, Avvocato dello Stato,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, S. Grünheid und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Oktober 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) und Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Auslieferung von A., einem in Italien als Flüchtling anerkannten und sich in Deutschland aufhaltenden türkischen Staatsangehörigen, infolge eines Ersuchens um Auslieferung zur Strafverfolgung, das die türkischen an die deutschen Behörden gerichtet hatten.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Genfer Flüchtlingskonvention
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) und wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt.
Rz. 4
Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Europäische Union ist dagegen keine Vertragspartei der Konvention.
Rz. 5
Art. 1 Abschnitt A der Genfer ...