Entscheidungsstichwort (Thema)
Liquidation einer Tochtergesellschaft bei Fusion, Begriff der Liquidation, Mutter-Tochter-Richtlinie
Leitsatz (amtlich)
Der Begriff der Liquidation in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der Fassung der Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 ist dahin auszulegen, dass die Auflösung einer Gesellschaft im Rahmen einer Fusion durch Übernahme nicht als eine derartige Liquidation angesehen werden kann.
Normenkette
EWGRL 435/90 Art. 4 Abs. 1
Beteiligte
Punch Graphix Prepress Belgium |
Punch Graphix Prepress Belgium NV |
Verfahrensgang
Hof van Beroep te Gent (Belgien) (Urteil vom 28.06.2011; ABl. EU 2011, Nr. C 282/22) |
Tatbestand
„Vorabentscheidungsersuchen ‐ Zulässigkeit ‐ Verweisung des innerstaatlichen Rechts auf das Unionsrecht ‐ Richtlinie 90/435/EWG ‐ Richtlinie 90/434/EWG ‐ Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung ‐ Ausnahme ‐ Liquidation einer Tochtergesellschaft bei einer Fusion ‐ Ausschüttung der Gewinne ‐ Begriff der Liquidation“
In der Rechtssache C-371/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Gent (Belgien) mit Entscheidung vom 28. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juli 2011, in dem Verfahren
Punch Graphix Prepress Belgium NV
gegen
Belgische Staat
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters J. Malenovský in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Punch Graphix Prepress Belgium NV, vertreten durch J. Dumon, advocaat,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux und M. Jacobs als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 90/435).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Punch Graphix Prepress Belgium NV (im Folgenden: Punch Graphix) und dem belgischen Staat über die Besteuerung der Gewinne, die Punch Graphix bei einer Fusion durch Übernahme erzielt hat, mit der die Strobbe Graphics NV (im Folgenden: Strobbe Graphics), aus der später Punch Graphix wurde, die Gesellschaften Advantra Belgium NV (im Folgenden: Advantra Belgium) und Strobbe NV (im Folgenden: Strobbe) übernahm.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 90/435
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 3 und 4 der Richtlinie 90/435 heißt es:
„Zusammenschlüsse von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Gemeinschaft zu schaffen und damit die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten. Sie dürfen nicht durch besondere Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten behindert werden. …
…
Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.
Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen, so
‐ besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese entweder nicht oder
‐ lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, auf die Steuer anrechnen kann.“
Rz. 4
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebsstätte aufgrund ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so
‐ besteuern der St...