Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Aufenthaltsrecht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers. Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt. Unverschuldete Arbeitslosigkeit. Anwendbarkeit des Assoziierungsabkommens auf türkische Flüchtlinge. Voraussetzungen für den Verlust erworbener Rechte
Beteiligte
Tenor
1. Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass das Kind eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung in Anspruch nehmen kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer während des Zeitraums von drei Jahren, in dem das Kind mit ihm zusammengelebt hat, zweieinhalb Jahre lang erwerbstätig und anschließend sechs Monate lang arbeitslos war.
2. Die Tatsache, dass ein türkischer Arbeitnehmer das Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat und damit das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt in diesem Staat als politischer Flüchtling erworben hat, schließt nicht aus, dass ein Angehöriger seiner Familie die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in Anspruch nehmen kann.
3. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, dass, wenn ein türkischer Arbeitnehmer den Status eines politischen Flüchtlings durch unwahre Angaben erlangt hat, die Rechte, die ein Angehöriger seiner Familie nach dieser Bestimmung hat, nicht in Frage gestellt werden können, wenn dieser Angehörige zu dem Zeitpunkt, zu dem die dem Arbeitnehmer erteilte Aufenthaltsgenehmigung zurückgenommen wird, die Voraussetzungen der genannten Bestimmung erfüllt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Juni 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2007, in dem Verfahren
Ibrahim Altun
gegen
Stadt Böblingen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter A. Ó Caoimh, J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und U. Lõhmus sowie der Richterin P. Lindh,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Altun, vertreten durch Rechtsanwalt P. Horrig,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. September 2008
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den der türkische Staatsangehörige Ibrahim Altun mit der Stadt Böblingen wegen der Nichtverlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und der Androhung seiner Abschiebung aus Deutschland führt.
Rechtlicher Rahmen
Beschluss Nr. 1/80
Rz. 3
Art. 6 Abs. 1 und 2 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnung...