Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. Richtlinie 79/7/EWG. Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1. Nationales System der jährlichen Pensionsanpassung. Außerordentliche Pensionserhöhung für das Jahr 2008. Ausschluss der den Ausgleichszulagenrichtsatz unterschreitenden Pensionen von dieser Erhöhung. Außerordentliche Anhebung dieses Richtsatzes für das Jahr 2008. Ausschluss von Pensionisten, deren Einkommen einschließlich des Einkommens des im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten den Richtsatz überschreitet, von der Ausgleichszulage. Geltungsbereich der Richtlinie. Mittelbare Diskriminierung von Frauen. Rechtfertigung. Fehlen
Beteiligte
Pensionsversicherungsanstalt |
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein System der jährlichen Pensionsanpassung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich dieser Richtlinie und damit unter das Diskriminierungsverbot in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie fällt.
2. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 ist dahin auszulegen, dass das vorlegende Gericht in Anbetracht der ihm unterbreiteten statistischen Daten und mangels gegenteiliger Anhaltspunkte zu der Annahme berechtigt wäre, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, die dazu führt, dass ein erheblich höherer Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher von einer außerordentlichen Pensionserhöhung ausgeschlossen wird.
3. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 ist dahin auszulegen, dass – falls das vorlegende Gericht im Rahmen der von ihm zur Beantwortung der zweiten Frage vorzunehmenden Prüfung zu dem Ergebnis kommen sollte, dass der Ausschluss der Kleinstpensionen von der außerordentlichen Erhöhung, die die im Ausgangsverfahren fragliche Anpassungsregelung vorsieht, tatsächlich geeignet war, einen erheblich höheren Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher zu benachteiligen – diese Benachteiligung weder mit dem früheren Pensionsanfallsalter erwerbstätiger Frauen noch mit der bei ihnen längeren Bezugsdauer der Pension oder damit gerechtfertigt werden kann, dass auch der Ausgleichszulagenrichtsatz für das Jahr 2008 überproportional erhöht wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 9. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 8. März 2010, in dem Verfahren
Waltraud Brachner
gegen
Pensionsversicherungsanstalt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin) sowie der Richter K. Schiemann, L. Bay Larsen und E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
- von Irland, vertreten durch D. O'Hagan und N. Travers als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. Juni 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Brachner und der Pensionsversicherungsanstalt über die Erhöhung der Alterspension, die ihr gemäß dem System der jährlichen Pensionsanpassung für das Jahr 2008 gewährt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 79/7 bestimmt:
„Diese Richtlinie hat zum Ziel, dass auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – im Folgenden ‚Grundsatz der Gleichbehandlung’ genannt – schrittweise verwirklicht wird.”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie findet Anwendung
auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten:
…
- auf Sozialhilferegelungen, soweit sie die unter Buchstabe a) genannten Systeme ergänzen oder ersetzen sollen.”
Rz. 5
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:
…
– die Berechnung der Leistungen, einschließli...