Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Beklagter, der keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. Zuständigkeit bei Verbrauchersachen. Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit. Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge. Begriff des Arbeitgebers. Unterordnungsverhältnis. Anwendbares Recht. Individualarbeitsvertrag. Zwischen einem Arbeitnehmer und einem dritten Unternehmen geschlossene Patronatsvereinbarung, mit der die Erfüllung der Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber gesichert wird
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 6, 17, 21; Verordnung (EG) Nr. 593/2008 Art. 6
Beteiligte
Tenor
1. Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist wie folgt auszulegen:
Ein Arbeitnehmer kann eine Person mit oder ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, an die er durch keinen förmlichen Arbeitsvertrag gebunden ist, die ihm gegenüber aber aufgrund einer Patronatsvereinbarung, von der der Abschluss des Arbeitsvertrags mit einem Dritten abhing, unmittelbar für die Erfüllung der Ansprüche gegen diesen Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat, wenn zwischen dieser Person und dem Arbeitnehmer ein Unterordnungsverhältnis besteht.
2. Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012
ist wie folgt auszulegen:
Der Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung verwehrt es selbst dann dem Gericht eines Mitgliedstaats, sich, wenn die Anwendungsvoraussetzungen dieses Art. 21 Abs. 2 erfüllt sind, auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die gerichtliche Zuständigkeit zu berufen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger wären. Sind hingegen weder die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 noch diejenigen der übrigen Vorschriften, die in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung aufgeführt werden, erfüllt, steht es dem Gericht nach dieser letztgenannten Bestimmung frei, bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit die genannten Vorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden.
3. Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I)
sind wie folgt auszulegen:
Der Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit umfasst nicht nur eine selbständige Tätigkeit, sondern auch eine abhängige Beschäftigung. Bei einer zwischen dem Arbeitnehmer und einer Person, die nicht der im Arbeitsvertrag genannte Arbeitgeber ist, geschlossenen Vereinbarung, nach der diese Person gegenüber dem Arbeitnehmer unmittelbar für Ansprüche gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag haftet, handelt es sich für die Anwendung dieser Vorschriften nicht um einen Vertrag, der ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden wäre.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2020, in dem Verfahren
ROI Land Investments Ltd
gegen
FD
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von FD, vertreten durch Rechtsanwältin N. von Kirchbach,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller, M. Wilderspin und W. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1, von Art. 17 Abs. 1 sowie von Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) sowie von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, im Folgenden: Rom-I-Verordnung).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ROI Land Investments Ltd (im Folgenden: ROI Land) und FD wegen der Weigerung dieser Gesellschaft – die nach einer Patronatsvereinbarung gegen...