Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Allgemeine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass. Nationale Regelung über die internationale Zuständigkeit für die Ausstellung nationaler Nachlasszeugnisse. Europäisches Nachlasszeugnis
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 650/2012 Art. 4
Beteiligte
Tenor
Art. 4 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die vorsieht, dass, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte, dessen Gerichte ihre Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug behalten, wenn Nachlassvermögen auf dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen ist oder der Erblasser dessen Staatsangehörigkeit besaß.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht (Berlin, Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Januar 2017, in dem von
Vincent Pierre Oberle
angestrengten Verfahren erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann, T. Henze und E. Lankenau als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Armoët als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Nowak und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und M. Carvalho als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Februar 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von Vincent Pierre Oberle angestrengten Verfahrens beim Amtsgericht Schöneberg (Deutschland) zur Erlangung eines nationalen Nachlasszeugnisses infolge des Ablebens seines Vaters, eines französischen Staatsangehörigen, dessen letzter gewöhnlicher Aufenthalt in Frankreich war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 7 bis 9, 27, 32, 34, 59 und 67 der Verordnung Nr. 650/2012 heißt es:
„(7) Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden.
(8) Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer Verordnung, in der die Bestimmungen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung – oder gegebenenfalls die Annahme –, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen, öffentlichen Urkunden und gerichtlichen Vergleichen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses zusammengefasst sind.
(9) Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken, und zwar auf jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge.
…
(27) Die Vorschriften dieser Verordnung sind so angelegt, dass sichergestellt wird, dass die mit der Erbsache befasste Behörde in...