Entscheidungsstichwort (Thema)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2001/220/JI. Stellung des Opfers im Strafverfahren. Begriff des Opfers. Juristische Person. Schlichtung im Rahmen des Strafverfahrens. Anwendungsmodalitäten
Beteiligte
Tenor
1. Die Art. 1 Buchst. a und 10 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren des Rahmenbeschlusses sind dahin auszulegen, dass der Begriff des „Opfers” für die Zwecke der Förderung der Schlichtung in Strafsachen gemäß Art. 10 Abs. 1 juristische Personen nicht umfasst.
2. Art. 10 des Rahmenbeschlusses 2001/220 ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, die Inanspruchnahme der Schlichtung für alle Straftaten zu erlauben, deren in der nationalen Regelung festgelegte materielle Tatbestandsvoraussetzungen im Wesentlichen denen der Straftaten entsprechen, für die diese Regelung die Schlichtung ausdrücklich vorsieht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Szombathelyi Városi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 22. April 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2009, in dem Strafverfahren gegen
Emil Eredics,
Mária Vassné Sápi
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter A. Arabadjiev, A. Rosas, U. Lõhmus und A. Ó Caoimh,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich, M. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von F. Arena, avvocato dello Stato,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. Simon und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 1. Juli 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 Buchst. a und 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Eredics und Frau Sápi wegen Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck
a) ‚Opfer’: eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen;
…
c) ‚Strafverfahren’: das strafrechtliche Verfahren im Sinne des geltenden einzelstaatlichen Rechts;
…
e) ‚Schlichtung in Strafsachen’: die vor oder im Verlauf des Strafverfahrens unternommenen Bemühungen um eine durch Vermittlung einer sachkundigen Person zwischen dem Opfer und dem Täter ausgehandelte Regelung.”
Rz. 4
Art. 10 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Schlichtung in Strafsachen im Falle von Straftaten, die sie für eine derartige Maßnahme für geeignet halten, gefördert wird.
(2) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass jede im Rahmen der Schlichtung in Strafsachen erreichte Vereinbarung zwischen Opfer und Täter im Strafverfahren berücksichtigt werden kann.”
Nationales Recht
Rz. 5
Art. 221/A des ungarischen Strafverfahrensgesetzbuchs (Büntető eljárási törvény, im Folgenden: Strafverfahrensgesetzbuch) bestimmt:
„(1) Das Schlichtungsverfahren kann auf Antrag des Tatverdächtigen oder des Opfers bzw. mit deren Einverständnis in Strafverfahren durchgeführt werden, wenn diese Verfahren Straftaten gegen Personen (Kapitel XII Titel I und III des Strafgesetzbuchs), gegen die Sicherheit des Verkehrs (Kapitel XIII des Strafgesetzbuchs) oder gegen das Vermögen (Kapitel XVIII des Strafgesetzbuchs) betreffen, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bewehrt sind.
(2) Das Schlichtungsverfahren zielt auf eine Wiedergutmachung der Folgen der Straftat und auf die zukünftige Rechtstreue des Tatverdächtigen ab. Im Lauf des Schlichtungsverfahrens ist darauf hinzuwirken, dass es zu einem Ausgleich zwischen dem Tatverdächtigen und dem Opfer kommt, der auf der tätigen Reue des Tatverdächtigen beruht. Im Verlauf des Strafverfahrens kann es nur zu einer einmaligen Durchführung eines Schlichtungsverfahrens kommen.
(3) Die Staatsanwaltschaft setzt von Amts wegen oder auf Antrag des Tatverdächtigen, des Verteidigers oder des Opfers das Verfahren für eine Dau...