Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, der Aufenthalt verweigert wird. Kind, das sich außerhalb des Gebiets der Europäischen Union befindet und sich nie in diesem Gebiet aufgehalten hat

 

Normenkette

AEUV Art. 20

 

Beteiligte

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Mère thaïlandaise d’un enfant mineur néerlandais)

X

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

 

Tenor

1.Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats Unionsbürger ist, seit seiner Geburt außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats lebt und sich nie im Unionsgebiet aufgehalten hat, es nicht ausschließt, dass ein drittstaatsangehöriger Elternteil, von dem dieses Kind abhängig ist, ein auf diesen Artikel gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht hat, sofern feststeht, dass das Kind mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, einreisen und sich dort aufhalten wird.

2.Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht, den ein Drittstaatsangehöriger, dessen minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats Unionsbürger ist, von ihm abhängig ist und seit seiner Geburt im Drittstaat lebt, ohne sich jemals im Unionsgebiet aufgehalten zu haben, gestellt hat, nicht mit der Begründung ablehnen kann, dass der Umzug in diesen Mitgliedstaat, der mit der Ausübung der Rechte des Kindes als Unionsbürger einhergeht, nicht im tatsächlichen oder glaubhaft erscheinenden Interesse des Kindes liege.

3.Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass für die Beurteilung, ob ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist, von seinem drittstaatsangehörigen Elternteil abhängig ist, der betreffende Mitgliedstaat sämtliche relevanten Umstände zu berücksichtigen hat, ohne dass insoweit der Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil nicht immer die tägliche Sorge für das Kind wahrgenommen hat, aber inzwischen das alleinige Sorgerecht für das Kind besitzt, oder der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind wahrnehmen könnte, als entscheidend angesehen werden können.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-459/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) mit Entscheidung vom 10. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. September 2020, in dem Verfahren

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        von X, vertreten durch M. van Werven und J. Werner, Advocaten,
  • –        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
  • –        der dänischen Regierung, vertreten durch M. Jespersen, J. Nymann-Lindegren und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,
  • –        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Ladenburger, E. Montaguti und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einer thailändischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über dessen Ablehnung des Antrags von X auf Aufenthaltserlaubnis.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rz. 3

X hielt sich rechtmäßig in den Niederlanden auf, wo sie mit A, einem niederländischen Staatsangehörigen, verheiratet war. Aus dieser Ehe ging ein Kind hervor, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt.

Rz. 4

Dieses Kind, das zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens zehn Jahre alt war, wurde in Thailand geboren, wo es von seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen wurde, weil X nach der Geburt des Kindes in die Niederlande zurückgekehrt war. Das Kind hat stets in diesem Drittland gewohnt und sich...

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