Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Freier Kapitalverkehr. Eigentumsordnungen. Elektrizitäts- und Gasverteilernetzbetreiber. Privatisierungsverbot. Verbot von Verbindungen zu Unternehmen, die Elektrizität oder Gas erzeugen, liefern oder vertreiben. Verbot von Tätigkeiten, die dem Interesse des Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten
Normenkette
AEUV Art. 63, 345
Beteiligte
Tenor
1. Art. 345 AEUV ist dahin auszulegen, dass er sich auf ein Privatisierungsverbot wie das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende erstreckt, wonach die Anteile an einem im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber unmittelbar oder mittelbar von öffentlichen Stellen, die in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegt sind, gehalten werden müssen. Diese Auslegung hat jedoch nicht zur Folge, dass Art. 63 AEUV nicht auf nationale Bestimmungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, nach denen die Privatisierung von Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreibern verboten ist oder zum einen Beteiligungen oder Beherrschungsverhältnisse zwischen Gesellschaften eines Konzerns, dem ein im niederländischen Hoheitsgebiet tätiger Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber angehört, und Gesellschaften eines Konzerns, dem ein im niederländischen Hoheitsgebiet Elektrizität oder Gas erzeugendes, lieferndes oder vertreibendes Unternehmen angehört, verboten sind sowie zum anderen die Vornahme von Handlungen und Tätigkeiten, die dem Interesse des betreffenden Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten, durch einen solchen Betreiber oder den Konzern, dem er angehört, verboten ist.
2. Hinsichtlich des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Privatisierungsverbots, das unter Art. 345 AEUV fällt, können die Ziele, die der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers bezüglich der Eigentumsordnung zugrunde liegen, als zwingende Gründe des Allgemeininteresses berücksichtigt werden, um die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu rechtfertigen. Hinsichtlich der anderen Verbote können die Ziele, Quersubventionierungen im weiten Sinne einschließlich des Austauschs strategischer Informationen zu unterbinden, Transparenz auf den Märkten für Elektrizität und Gas zu schaffen und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, als zwingende Gründe des Allgemeininteresses die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen, die durch nationale Rechtsvorschriften wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden hervorgerufen werden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidungen vom 24. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Februar 2012, in den Verfahren
Staat der Nederlanden
gegen
Essent NV (C-105/12),
Essent Nederland BV (C-105/12),
Eneco Holding NV (C-106/12),
Delta NV (C-107/12)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen und M. Safjan, der Richter A. Rosas, J. Malenovský, U. Lõhmus, E. Levits, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Essent NV und der Essent Nederland BV, vertreten durch W. Knibbeler und A. Pliego Selie, advocaten,
- der Eneco Holding NV, vertreten durch C. Kroes, advocaat,
- der Delta NV, vertreten durch T. Ottervanger und P. Glazener, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und T. Müller als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, S. Noë und T. van Rijn als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. April 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 63 AEUV und 345 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staat der Nederlanden und den Gesellschaften Essent NV, Essent Nederland BV, Eneco Holding NV und Delta NV, deren Tätigkeit u. a. darin besteht, im niederländischen Hoheitsgebiet Elektrizität und Gas zu erzeugen, zu liefern und zu vertreiben (im Folgenden zusammen: Essent u. a.), über die Frage, ob nationale Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind, die Folgendes verbieten: erstens den Verkauf von Anteilen an im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- und Gasverteilernetzbetreibern an private Investoren (im Folgenden:...