Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Gemeinsames europäisches Asylsystem. Richtlinie 2004/83/EG. Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus. Art. 4 Abs. 1 Satz 2. Zusammenarbeit des Mitgliedstaats mit dem Antragsteller bei der Prüfung der für seinen Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte. Umfang. Ordnungsmäßigkeit des bei der Behandlung eines Antrags auf subsidiären Schutz nach Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling befolgten nationalen Verfahrens. Beachtung der Grundrechte. Recht auf Anhörung
Beteiligte
Minister for Justice, Equality and Law Reform |
Tenor
Das Erfordernis der Zusammenarbeit des betreffenden Mitgliedstaats mit dem Asylbewerber im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die zuständige nationale Behörde, wenn ein Ausländer die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus beantragt, nachdem ihm die Anerkennung als Flüchtling verweigert worden ist, und sie beabsichtigt, auch diesen zweiten Antrag abzulehnen, verpflichtet wäre, den Betroffenen vor dem Erlass ihrer Entscheidung von der beabsichtigten Ablehnung seines Antrags zu unterrichten und ihm die Argumente mitzuteilen, auf die sie dessen Ablehnung stützen möchte, um es diesem Antragsteller zu ermöglichen, seinen Standpunkt dazu geltend zu machen.
Bei einem System wie dem durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eingerichteten, das dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei getrennte und aufeinanderfolgende Verfahren zur Prüfung des Antrags auf Anerkennung als Flüchtling bzw. des Antrags auf subsidiären Schutz bestehen, obliegt es jedoch dem nationalen Gericht, im Rahmen beider Verfahren für die Wahrung der Grundrechte des Antragstellers und insbesondere des Rechts auf Anhörung in dem Sinne Sorge zu tragen, dass er in der Lage ist, vor dem Erlass einer Entscheidung, mit der der beantragte Schutz nicht gewährt wird, sachdienlich Stellung zu nehmen. Dass der Betroffene bereits bei der Prüfung seines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling ordnungsgemäß angehört worden ist, bedeutet in einem solchen System nicht, dass von dieser Formvorschrift im Rahmen des Verfahrens über den Antrag auf subsidiären Schutz abgesehen werden könnte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 1. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juni 2011, in dem Verfahren
M. M.
gegen
Minister for Justice, Equality and Law Reform,
Irland,
Attorney General
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič und J.-J. Kasel (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn M., vertreten durch P. O'Shea und I. Whelan, BL, beauftragt durch B. Burns, Solicitor,
- von Irland, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigten,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Fehér Miklós, K. Szíjjártó und Z. Tóth als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch K. Petkovska als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. April 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, berichtigt in ABl. 2005, L 204, S. 24).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn M. auf der einen Seite und dem Minister for Justice, Equality and Law Reform (im Folgenden: Minister), Irland sowie dem Attorney General auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, das bei der Prüfung eines Antrags auf subsidiären Schutz, den Herr M. nach der Ableh...