Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Verordnung (EG) Nr. 2201/2003. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Elterliche Verantwortung. Sorgerecht. Kindesentführung. Art. 42. Vollstreckung einer von einem zuständigen (spanischen) Gericht erlassenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird und für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde. Befugnis des ersuchten (deutschen) Gerichts, die Vollstreckung der Entscheidung im Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Rechte des Kindes zu verweigern”
Beteiligte
Joseba Andoni Aguirre Zarraga |
Tenor
Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kann sich das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats der Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes angeordnet wird, nicht mit der Begründung entgegenstellen, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das diese Entscheidung erlassen hat, gegen Art. 42 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 nach dessen mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union konformer Auslegung verstoßen habe, da für die Beurteilung der Frage, ob ein solcher Verstoß vorliegt, ausschließlich die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zuständig sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Celle (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2010, in dem Verfahren
Joseba Andoni Aguirre Zarraga
gegen
Simone Pelz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter J.-J. Kasel, M. Ilešič, E. Levits und M. Safjan,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des Ersuchens des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2010 gemäß Art. 104b § 1 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, die Frage zu prüfen, ob es erforderlich ist, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 28. Oktober 2010, das Ersuchen diesem Verfahren zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Aguirre Zarraga, vertreten durch das Bundesamt für Justiz, dieses vertreten durch A. Schulz als Bevollmächtigte,
- von Frau Pelz, vertreten durch Rechtsanwältin K. Niethammer-Jürgens,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch J. M. Rodríguez Cárcamo als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch M. Borkoveca und D. Palcevska als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Aguirre Zarraga und Frau Pelz wegen der Rückkehr ihrer Tochter Andrea, die sich derzeit mit ihrer Mutter in Deutschland aufhält, nach Spanien.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 2201/2003
Rz. 3
Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen vom [25.] Oktober 1980 [über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980)], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen ...