Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat ansässig ist, aber ihre Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat ausübt. Arbeitsweise und Geschäftsführung der Gesellschaft. Nationale Regelung, die die Anwendung des Rechts des Mitgliedstaats vorsieht, in dem eine Gesellschaft ihre Tätigkeiten ausübt. Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Rechtfertigung. Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer. Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken und rein künstlicher Gestaltungen. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 49, 54
Beteiligte
Tenor
Die Art. 49 und 54 AEUV
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anwendbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-276/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 11. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2022, in dem Verfahren
Edil Work 2 Srl,
S.T. Srl
gegen
STE Sàrl,
Beteiligte:
CM,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Edil Work 2 Srl und der S.T. Srl, vertreten durch R. Vaccarella, Avvocato,
- – der STE Sàrl, vertreten durch A. Pontecorvo und P. Sammarco, Avvocati,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, L. Malferrari und M. Mataija als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Oktober 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 54 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Edil Work 2 Srl und der S.T. Srl auf der einen und der STE Sàrl auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der Übertragung des Eigentums an dem Castello di Tor Crescenza genannten Immobilienkomplex (im Folgenden: Schloss) auf die beiden erstgenannten Gesellschaften.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (ABl. 2019, L 321, S. 1) lautet:
„Die Niederlassungsfreiheit gehört zu den Grundprinzipien des Unionsrechts. Die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften umfasst nach Artikel 49 Absatz 2 [AEUV] in Verbindung mit Artikel 54 AEUV unter anderem das Recht auf Gründung und Leitung von Gesellschaften nach den Bestimmungen des Niederlassungsmitgliedstaats. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat dies dahin ausgelegt, dass die Niederlassungsfreiheit den Anspruch einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft auf Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umfasst, soweit die Voraussetzungen des Rechts jenes anderen Mitgliedstaats eingehalten sind und insbesondere das Kriterium erfüllt ist, das in diesem anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich ist.“
Italienisches Recht
Rz. 4
Art. 25 der Legge n. 218 – Riforma del sistema italiano di diritto internazionale privato (Gesetz Nr. 218 über die Reform des italienischen Systems des Internationalen Privatrechts) vom 31. Mai 1995 (GURI Nr. 128 vom 3. Juni 1995, S. 1, im Folgenden: Gesetz Nr. 218/1995) sieht vor:
„1. Gesellschaften, Vereine, Stiftungen und alle anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts oder des bürgerlichen Rechts, selbst ohne gesellschaftsrechtlichen Charakter, unterliegen dem Recht des Staates, in dem das Verfahren zu ihrer Gründung abgeschlossen worden ist. Es gilt jedoch italienisches Recht, wenn sich der Verwaltungssitz in Italien befindet oder wenn dort der Hauptgeschäftszweck dieser juristischen Personen verwirklicht wird.
2. Das für die Körperschaft geltende Recht regelt insbesondere
a) die Rechtsnatur;
b) den Namen oder die Firmenbezeichnung;
c) die Gründung, die Umwandlung und die Löschung;
d) die Rechtsfähigkeit;
e) die Bildung, di...