Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeitsklage. Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. Schutz des geistigen Eigentums. Diensteanbietern für das Teilen von Online-Inhalten auferlegte Verpflichtungen. Automatische Vorabkontrolle (Filterung) von Inhalten, die von den Nutzern online gestellt werden
Normenkette
Richtlinie (EU) 2019/790 Art. 17 Abs. 4 Buchst. b, c letzter Satzteil; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 11, 17 Abs. 2
Beteiligte
Polen / Parlament und Rat |
Rat der Europäischen Union |
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Republik Polen trägt die Kosten.
3. Das Königreich Spanien, die Französische Republik, die Portugiesische Republik und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 24. Mai 2019,
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, M. Wiącek und J. Sawicka als Bevollmächtigte im Beistand von J. Barski als Sachverständigem,
Klägerin,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch D. Warin, S. Alonso de León und W. D. Kuzmienko als Bevollmächtigte,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Alver, F. Florindo Gijón und D. Kornilaki als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Spanien, zunächst vertreten durch S. Centeno Huerta und J. Rodríguez de la Rúa Puig, dann durch J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,
Französische Republik, vertreten durch A.-L. Desjonquères und A. Daniel als Bevollmächtigte,
Portugiesische Republik, zunächst vertreten durch M. A. Capela de Carvalho Galaz Pimenta, P. Barros da Costa, P. Salvação Barreto und L. Inez Fernandes, dann durch M. A. Capela de Carvalho Galaz Pimenta, P. Barros da Costa und P. Salvação Barreto als Bevollmächtigte,
Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, S. L. Kalėda, J. Samnadda und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und S. Rodin sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.-C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2020,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juli 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Republik Polen, Art. 17 Abs. 4 Buchst. b und Buchst. c letzter Satzteil der Richtlinie (EU) 2019/790 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 96/9/EG und 2001/29/EG (ABl. 2019, L 130, S. 92) für nichtig zu erklären und, hilfsweise, für den Fall, dass sich diese Bestimmungen nach Ansicht des Gerichtshofs nicht von den anderen Bestimmungen von Art. 17 der Richtlinie 2019/790 trennen lassen, ohne dass dessen Wesensgehalt verändert würde, Art. 17 der Richtlinie 2019/790 insgesamt für nichtig zu erklären.
Rechtlicher Rahmen
Charta
Rz. 2
Art. 11 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:
„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.”
Rz. 3
Art. 17 Abs. 2 der Charta sieht vor, dass „[g]eistiges Eigentum … geschützt [wird]”.
Rz. 4
In Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta heißt es:
„(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in [der] Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
…
(3) Soweit [die] Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(EMRK)] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.”
Rz. 5
Nach Art. 53 der Charta ist „[k]eine Bestimmung [der] Charta … als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die [EMRK], sowie durch die Verfassungen der...