Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger. Organisation des Überschreitens der Grenze durch die Behörden eines Mitgliedstaats zum Zweck der Durchreise in einen anderen Mitgliedstaat. Ausnahmsweise Gestattung der Einreise aus humanitären Gründen. Begriff ‚Visum’. Erteilung eines Visums. Illegales Überschreiten einer Außengrenze
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 2 Buchst. m, Art. 12-13
Beteiligte
Tenor
1. Art. 12 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit Art. 2 Buchst. m dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass kein „Visum” im Sinne von Art. 12 vorliegt, wenn die Behörden eines Mitgliedstaats in einer Situation, in der sie mit der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl von Drittstaatsangehörigen konfrontiert sind, die durch diesen Mitgliedstaat durchreisen möchten, um in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen, die Einreise der Drittstaatsangehörigen dulden, obwohl sie die im erstgenannten Mitgliedstaat grundsätzlich geforderten Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen.
2. Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Einreise von den Behörden eines Mitgliedstaats in einer Situation geduldet wird, in der sie mit der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl von Drittstaatsangehörigen konfrontiert sind, die durch diesen Mitgliedstaat, dessen grundsätzlich geforderte Einreisevoraussetzungen sie nicht erfüllen, durchreisen möchten, um in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen, die Grenze des erstgenannten Mitgliedstaats im Sinne von Art. 13 Abs. 1 „illegal überschritten” hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 14. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Dezember 2016, in dem Verfahren der
Khadija Jafari,
Zainab Jafari,
belangte Behörde:
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentinnen M. Berger und A. Prechal, der Richter A. Rosas und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, D. Šváby, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Khadija Jafari und Frau Zainab Jafari, vertreten durch Rechtsanwalt R. Frühwirth,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
- der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. Armoët und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Cordí und L. D'Ascia, avvocati dello Stato,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von C. Banner, Barrister,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, G. Wils und M. Žebre als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. Juni 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2, 12 und 13 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung), sowie von Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Eu...