Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittel. Staatliche Beihilfen. Deutsche steuerrechtliche Bestimmungen über die Möglichkeit eines Verlustvortrags auf künftige Steuerjahre (‚Sanierungsklausel’). Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird. Nichtigkeitsklage. Zulässigkeit. Individuell betroffene Person. Begriff der staatlichen Beihilfe. Tatbestandsmerkmal der Selektivität. Bestimmung des Referenzsystems. Rechtliche Qualifizierung der Tatsachen
Normenkette
AEUV Art. 263 Abs. 4, Art. 107 Abs. 1
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Das Anschlussrechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Nrn. 2 und 3 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 4. Februar 2016, Heitkamp BauHolding/Kommission (T-287/11, EU:T:2016:60), werden aufgehoben.
3. Der Beschluss 2011/527/EU der Kommission vom 26. Januar 2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands C 7/10 (ex CP 250/09 und NN 5/10) „KStG, Sanierungsklausel” wird für nichtig erklärt.
4. Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten die der Bundesrepublik Deutschland durch das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten sowie die Herrn Dirk Andres, Insolvenzverwalter über das Vermögen der Heitkamp BauHolding GmbH, durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 14. April 2016,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführerin,
andere Parteien des Verfahrens:
Dirk Andres, Insolvenzverwalter über das Vermögen der Heitkamp BauHolding GmbH, wohnhaft in Düsseldorf (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Niemann, S. Geringhoff und P. Dodos,
Kläger im ersten Rechtszug,
Europäische Kommission, vertreten durch R. Lyal, T. Maxian Rusche und K. Blanck-Putz als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2017,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Bundesrepublik Deutschland die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 4. Februar 2016, Heitkamp BauHolding/Kommission (T-287/11, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2016:60), soweit das Gericht darin die Klage der Heitkamp BauHolding GmbH, nunmehr vertreten durch Herrn Dirk Andres, ihren Insolvenzverwalter (im Folgenden: HBH), auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/527/EU der Kommission vom 26. Januar 2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands C 7/10 (ex CP 250/09 und NN 5/10) „KStG, Sanierungsklausel” (ABl. 2011, L 235, S. 26, im Folgenden: streitgegenständlicher Beschluss) als unbegründet abgewiesen hat, sowie die Nichtigerklärung dieses Beschlusses.
Rz. 2
Mit ihrem Anschlussrechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das Gericht darin die von ihr gegen die Klage erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen hat, und infolgedessen die Abweisung der Klage als unzulässig.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitgegenständlicher Beschluss
Rz. 3
Die Vorgeschichte des Rechtsstreits und der streitgegenständliche Beschluss, die in den Rn. 1 bis 35 des angefochtenen Urteils dargestellt sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Deutsches Recht
Rz. 4
In Deutschland können nach § 10d Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) die in einem Steuerjahr eingetretenen Verluste auf künftige Steuerjahre vorgetragen werden, so dass die betreffenden Verluste von den steuerpflichtigen Einkünften der folgenden Jahre abgezogen werden (im Folgenden: Regel des Verlustvortrags). Nach § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (im Folgenden: KStG) besteht die Möglichkeit des Verlustvortrags für Unternehmen, die der Körperschaftsteuer unterliegen.
Rz. 5
Die Möglichkeit des Verlustvortrags führte dazu, dass allein aus Gründen der Steuerersparnis Unternehmen erworben wurden, die ihren Geschäftsbetrieb eingestellt hatten, aber noch Verluste besaßen, die vorgetragen werden konnten. Um solchen als missbräuchlich angesehenen Vorgängen entgegenzuwirken, führte der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1997 § 8 Abs. 4 KStG ein. Er beschränkte die Möglichkeit des Verlustvortrags auf Unternehmen, die mit dem Unternehmen, das die Verluste erlitten hatte, rechtlich und wirtschaftlich identisch waren.
Rz. 6
Durch das Unternehme...