Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. Beweislast. Fortdauer der Untersuchungshaft einer beschuldigten Person”
Normenkette
Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 6
Beteiligte
Spetsializirana prokuratura |
Tenor
Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen sowie die Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind nicht auf nationale Rechtsvorschriften anwendbar, die die Freilassung einer in Untersuchungshaft befindlichen Person davon abhängig machen, dass sie den Eintritt neuer Umstände nachweist, die ihre Entlassung aus der Haft rechtfertigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 4. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 2019, in dem Strafverfahren gegen
DK,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. November 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von DK, vertreten durch D. Gochev, I. Angelov und I. Yotov, advokati,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. Marinova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. November 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen DK und betrifft die Aufrechterhaltung seiner Untersuchungshaft.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 16 und 22 der Richtlinie 2016/343 heißt es:
„(16) Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. … [U]nberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird. …
…
(22) Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. …”
Rz. 4
Art. 2 („Anwendungsbereich”) der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.”
Rz. 5
Art. 3 („Unschuldsvermutung”) der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.”
Rz. 6
Art. 4 „Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld”) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Pe...