Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und Einwanderung. Antrag auf internationalen Schutz. Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Umfang der Pflichten des Mitgliedstaats, der den zuständigen Mitgliedstaat um Wiederaufnahme des Antragstellers ersucht hat und den Antragsteller in den letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte. Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Beweismittel und Beweismaßstab für die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung infolge systemischer Schwachstellen. Praktiken der pauschalen Zurückschiebung (,pushback‘) und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 4; Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Confiance mutuelle en cas de transfert) |
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Tenor
1.Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,
ist dahin auszulegen, dass
die Tatsache, dass der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen, die einen solchen Antrag an seiner Grenze stellen möchten, pauschale Zurückschiebungen und Inhaftnahmen an seinen Grenzübergangsstellen anwendet, der Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat für sich genommen nicht entgegensteht. Die Überstellung des Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat ist jedoch ausgeschlossen, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass er bei oder nach der Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, solchen Praktiken unterworfen zu werden, und dass diese Praktiken je nach den Umständen, die von den zuständigen Behörden und dem gegebenenfalls mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befassten Gericht zu beurteilen sind, geeignet sind, ihn in eine Situation extremer materieller Not zu versetzen, die so schwerwiegend ist, dass sie einer nach Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbotenen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
2.Die Verordnung Nr. 604/2013 ist im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
- –
- der Mitgliedstaat, der um die Wiederaufnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, durch den zuständigen Mitgliedstaat ersucht hat und diese Person in diesen letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte, alle ihm von diesem Antragsteller zur Verfügung gestellten Informationen berücksichtigen muss, insbesondere in Bezug auf das etwaige Bestehen einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des genannten Art. 4 bei oder nach der Überstellung;
- –
- der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen möchte, bei der Feststellung der Tatsachen mitwirken und/oder deren Richtigkeit prüfen muss;
- –
- dieser Mitgliedstaat bei ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen für die Annahme, dass im Fall einer Überstellung eine tatsächliche Gefahr einer solchen Behandlung besteht, von der Überstellung absehen muss;
- –
- dieser Mitgliedstaat sich jedoch darum bemühen kann, vom zuständigen Mitgliedstaat individuelle Garantien zu erhalten, und, wenn solche Garantien gegeben werden und sowohl glaubhaft als auch ausreichend erscheinen, um eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen, die Überstellung durchführen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache C-392/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s-Hertogenbosch, Niederlande) mit Entscheidung vom 15. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
X
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von X, vertreten durch A. Khalaf, Advocaat,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmäc...