Entscheidungsstichwort (Thema)
Wettbewerb. Vertriebsvereinbarung über Kraftfahrzeuge. Gruppenfreistellung. Verordnung (EG) Nr. 1475/95. Artikel 5 Absatz 3. Kündigung durch den Lieferanten. Umstrukturierung des Netzes. Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002. Artikel 4 Absatz 1. Kernbeschränkungen. Folgen
Beteiligte
Bayerische Motorenwerke AG (BMW) |
Tenor
1. Das Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor hat als solches keine Umstrukturierung des Vertriebssystems eines Lieferanten im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 Unterabsatz 1 erster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel [81] Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge notwendig gemacht. Jedoch konnte dieses Inkrafttreten nach Maßgabe des spezifischen Aufbaus des Vertriebsnetzes des einzelnen Lieferanten Änderungen von solcher Bedeutung notwendig machen, dass sie eine echte Umstrukturierung dieses Netzes im Sinne dieser Bestimmung darstellen. Es ist Sache der nationalen Gerichte und der Schiedsgerichte, zu beurteilen, ob dies unter Berücksichtigung aller konkreten Gegebenheiten der Streitigkeit, mit der sie befasst sind, der Fall ist.
2. Artikel 4 der Verordnung Nr. 1400/2002 ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Gruppenfreistellung nach Ablauf der Übergangsfrist des Artikels 10 dieser Verordnung unanwendbar ist auf Verträge, die die Voraussetzungen für die Freistellung gemäß der Verordnung Nr. 1475/95 erfüllen und zumindest eine der Kernbeschränkungen im Sinne von Artikel 4 zum Gegenstand haben, so dass alle in solchen Verträgen enthaltenen wettbewerbsbeschränkenden Vertragsbestimmungen nach Artikel 81 Absatz 1 EG verboten sein konnten, wenn die Voraussetzungen einer Freistellung nach Artikel 81 Absatz 3 EG nicht erfüllt waren.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 26. Juli 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Oktober 2005, in den Verfahren
A. Brünsteiner GmbH (C-376/05),
Autohaus Hilgert GmbH (C-377/05)
gegen
Bayerische Motorenwerke AG (BMW)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter A. Borg Barthet, J. Malenovský, U. Lõhmus und A. Ó Caoimh (Berichterstatter),
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: K. Sztranc-Slawiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. September 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der A. Brünsteiner GmbH und der Autohaus Hilgert GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte F. C. Genzow und C. Bittner,
- der Bayerische Motorenwerke AG (BMW), vertreten durch Rechtsanwalt R. Bechtold,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A. Whelan, K. Mojzesowicz und M. Schneider als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Artikels 5 Absatz 3 Unterabsatz 1 erster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel [81] Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. L 145, S. 25) und des Artikels 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (ABl. L 203, S. 30).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der A. Brünsteiner GmbH (im Folgenden: Brünsteiner) und der Autohaus Hilgert GmbH (im Folgenden: Hilgert) einerseits und der Bayerische Motorenwerke AG (im Folgenden: BMW) andererseits über die Rechtmäßigkeit der von BMW mit einer Frist von einem Jahr ausgesprochenen Kündigung der Vereinbarungen, die sie mit Brünsteiner und Hilgert (im Folgenden: Klägerinnen des Ausgangsverfahrens) über den Vertrieb von Fahrzeugen der Marke BMW in Deutschland geschlossen hatte.
Rechtlicher Rahmen
3 In der 19. Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1475/95 heißt es:
„In Artikel 5 Absatz 2 Nummern 2 und 3 und Absatz 3 sind für die Freistellung Mindestvoraussetzungen hinsichtlich der Dauer und Beendigung der Vertriebs- und Kundendienstvereinbarung festgelegt, weil sich die Abhängigkeit des Händlers vom Lieferanten bei kurzfristigen Vereinbarungen oder kurzfristig beendbaren Vereinbarungen erheblich erhöht, wenn er Investitionen zur Verbesserung der Struktur des Vertriebs und Kundendienstes von Vertragswaren vornimmt. Um je...