Entscheidungsstichwort (Thema)
Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr. Richtlinie 2008/115/EG. Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Art. 15 Abs. 4 bis 6. Haftdauer. Berücksichtigung der Dauer, während deren der Vollzug einer Abschiebungsentscheidung aufgeschoben war. Begriff der ‚hinreichenden Aussicht auf Abschiebung’
Beteiligte
Said Shamilovich Kadzoev (Huchbarov) |
Tenor
1. Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auslegen, dass die dort vorgesehene maximale Haftdauer auch die Haftzeit umfassen muss, die im Rahmen eines vor Geltung der Regelung dieser Richtlinie eingeleiteten Abschiebungsverfahrens zurückgelegt wurde.
2. Die Zeit, während deren eine Person auf der Grundlage einer gemäß den nationalen und den gemeinschaftlichen Bestimmungen über Asylbewerber getroffenen Entscheidung in einem Zentrum für die vorübergehende Unterbringung untergebracht war, ist nicht als Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 anzusehen.
3. Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die Zeit, während deren der Vollzug der Abschiebungsanordnung wegen einer Klage des Betreffenden gegen die Anordnung aufgeschoben war, bei der Berechnung der Dauer der Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung berücksichtigt wird, wenn sich der Betreffende während des Verfahrens weiterhin in einem Zentrum für die vorübergehende Unterbringung aufgehalten hat.
4. Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er nicht anwendbar ist, wenn die Möglichkeiten einer Verlängerung der in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Haftzeiträume zum Zeitpunkt der gerichtlichen Überprüfung der Inhaftierung der betreffenden Person erschöpft sind.
5. Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass nur eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Abschiebung unter Berücksichtigung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 festgelegten Zeiträume eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung darstellt und dass diese nicht besteht, wenn es wenig wahrscheinlich erscheint, dass der Betreffende unter Berücksichtigung der genannten Zeiträume in einem Drittstaat aufgenommen wird.
6. Art. 15 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er bei Ablauf der in der Richtlinie vorgesehenen maximalen Haftdauer nicht erlaubt, den Betreffenden nicht unverzüglich freizulassen, weil er keine gültigen Dokumente besitzt, sich aggressiv verhält und weder über eigene Unterhaltsmittel noch über eine Unterkunft, noch über vom Mitgliedstaat für diese Zwecke gestellte Mittel verfügt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach den Art. 68 EG und 234 EG, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 10. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2009, in dem Verfahren
Said Shamilovich Kadzoev (Huchbarov)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin C. Toader sowie der Richter C. W. A. Timmermans, P. Kūris, E. Juhász, G. Arestis, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: N. Nanchev, Verwaltungsrat,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 10. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2009 und ergänzt am 10. September 2009, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung einem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Zweiten Kammer vom 22. September 2009, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Kadzoev, vertreten durch D. Daskalova und V. Ilareva, advokati,
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,
- der litauischen Regierung, vertreten durch R. Mackevičiene als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch S. Petrova und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98, im Folgenden: Richtlinie 2008/115).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines auf Betreiben des Direktors der Direktsia „Migratsia” pri Ministerstvo na vatreshnite raboti (Direktion „Migration” des Innenministeriums)...