Einwirkungen als solche, die aus der Nachbarschaft resultieren, sind nicht schon deshalb abwehrbar, weil sie etwa mit der Nase oder dem Ohr sinnlich wahrnehmbar sind. Sie sind es vielmehr erst dann, wenn sie wesentlich im Sinn des § 906 BGB sind.
Was ist wesentlich?
Die Frage nach der Wesentlichkeit ist einerseits eine ganz entscheidende Fragestellung, weil nicht jede "vermeintliche" Belästigung untersagt werden kann, sondern nur eine solche, die als wesentlich zu qualifizieren ist. Zum anderen handelt es sich um eine äußerst schwierige Fragestellung, weil der Begriff der Wesentlichkeit keine festen Konturen besitzt und einen weiten Auslegungsspielraum zulässt: Was der eine für wesentlich hält, kann für den anderen, der das Leben leicht nimmt, durchaus unwesentlich sein.
1.4.2.1 Grenz- oder Richtwerte
Wegen dieser Problematik konkretisiert § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB, dass "eine (nur) unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel (dann) vorliegt, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Gleiches gilt für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben" .
Mit dieser Vorschrift wird eine Brücke vom Zivilrecht zum öffentlichen Immissionsschutzrecht geschlagen, indem der Begriff der "schädlichen Umwelteinwirkung" in § 3 Abs. 1 BImschG (= wesentliche Beeinträchtigung nach § 906 BGB) durch Regelwerke wie die TA Lärm oder die TA Luft konkretisiert wird. In diesen Regelwerken wird die Wesentlichkeits- bzw. Schädlichkeitsschwelle durch sog. "Richt- oder Grenzwerte" für den Regelfall markiert.
Durch § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB wird einerseits zum Ausdruck gebracht, dass das, was als "schädliche Umwelteinwirkung" nach öffentlichem Recht zu qualifizieren ist, sich zugleich als "wesentliche Einwirkung" nach Zivilrecht darstellt. Zum anderen wird verdeutlicht, dass das private Nachbarrecht gegen schädliche Umwelteinwirkungen etwa durch Lärm oder Gerüche keinen weitergehenden Schutz vermittelt als das öffentliche Nachbarrecht des Bundes-Immissionsschutzgesetzes.
Im Ergebnis indiziert die Einhaltung der einschlägigen Richtwerte beispielsweise der TA Lärm nach § 906 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BGB die Unwesentlichkeit einer Lärmbeeinträchtigung, während die Überschreitung der Richtwerte die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung indiziert.
1.4.2.2 Bewertungsmaßstab für Geruchsbelästigungen
Bewertungsmaßstab für Geruchsbelästigungen ist ebenso wie für Lärmbelästigungen nach § 3 Abs. 1 BImSchG deren Erheblichkeit. Bis 1.12.2021 fehlte es bei Geruchsbelästigungen an einer bundeseinheitlichen sog. "normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift" wie der TA Lärm. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde von den Gerichten die Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) als Orientierungshilfe herangezogen. Seit 1.12.2021 ist die GIRL in Anlage 7 der TA Luft integriert.
Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) bis 30.11.2021
Bereits vor der Novellierung der TA Luft zum 1.12.2021 durfte das Fehlen von verbindlichen Grenzwerten für Geruchsbelästigungen im Gegensatz zu den Lärmrichtwerten der TA Lärm nach Meinung der Gerichte nicht zum Anlass genommen werden, jede Geruchswahrnehmung bereits als erhebliche Belästigung einzustufen. Um die Erheblichkeit einer Geruchsbelästigung im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG bzw. ihre Wesentlichkeit im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB beurteilen zu können, wurde bereits in der Vergangenheit gefordert, objektive, reproduzierbare und quantitativ beschreibbare Geruchserhebungsverfahren anwenden zu können.
Grundsätze dazu waren bis 2021 in der Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) festgelegt. Diese Richtlinie wurde von den Gerichten bei der Bewertung der Erheblichkeit bzw.Wesentlichkeit von Geruchsbelästigungen zwar nicht als verbindliche Vorgabe, aber generell als Orientierungs- und Entscheidungshilfe herangezogen.
Vorgehen nach GIRL
Die GIRL ging dann von einer erheblichen bzw. wesentlichen Geruchsbelästigung aus, wenn einerseits die Intensität der Beeinträchtigung so stark ist, dass der Geruch deutlich wahrnehmbar ist. Zum anderen darf der Geruch nicht nur gelegentlich auftreten, sondern er muss über einen längeren Zeitraum belästigend wirken. Als Maßstab für die Geruchsbelastung wird insoweit die Geruchshäufigkeit in Prozent der Jahresstunden mit Geruch herangezogen. Die Erheblichkeitsschwelle liegt dabei für Wohn-/Mischgebiete bei einer relativen Häufigkeit der Geruchsstunden von über 10 % der Jahresstunden und für Gewerbe-/Industriegebiete von über 15 % der Jahresstunden. Das bedeutet mit anderen Worten, dass eine erhebliche bzw. wesentliche Geruchsbelästigung oberhalb eines Richtwerts von 876 Geruchsstunden (10 % der Jahresstunden) für Wohn-/Mischgebiete und von 1.314 Geruchsstunden (15 % der Jahresstunden) für Gewerbe-/Industriegebiete grundsätzlich angenommen werden kann. Eine Geruchsstunde wird dabei angenommen, wenn bei einem Messintervall ...