Leitsatz (amtlich)
1. Eine Kindeswohlgefährdung, die Anlass zu einem familiengerichtlichen Eingriff in das elterliche Sorgerecht gibt, kann sich auch aus der Summe einer Vielzahl von Einzelaspekten ergeben.
2. Ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung ist nicht bereits dann ohne sorgerechtliche Maßnahmen einzustellen, wenn ein beteiligter Elternteil sich weigert, an der vom Familiengericht angeordneten Begutachtung mitzuwirken. Vielmehr sind in diesem Fall zunächst alle zulässigen Möglichkeiten für eine weitere Tatsachenermittlung auszuschöpfen. Gelingt es dadurch nicht, den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung auszuräumen oder zu bestätigen, ist eine Risikoabwägung auf der Grundlage aller bekannten Hinweise und Indizien vorzunehmen.
Verfahrensgang
AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg (Beschluss vom 27.05.2014; Aktenzeichen 155 F 19415/13) |
Tenor
Die Beschwerde der Mutter gegen den Beschluss des AG Tempelhof-Kreuzberg vom 27.5.2014 - 155 F 19415/13 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Mutter die Personensorge für das am ...Januar 2013 geborene Kind E.entzogen und das Bezirksamt ...B.- Jugendamt - als Pfleger ausgewählt wird.
Von der Erhebung von gerichtlichen Kosten für das Verfahren der Beschwerde und der Rechtsbeschwerde wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens sind von jedem Beteiligten selbst zu tragen.
Der Beschwerdewert wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Mutter wendet sich gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 27.5.2014. Mit diesem Beschluss wurde ihr die elterliche Sorge für ihre Tochter entzogen und auf einen Vormund, das Bezirksamt ...B., übertragen.
Das Familiengericht führte zur Begründung der Entscheidung, der Mutter die elterliche Sorge zu entziehen, aus, dass diese - sei es aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeit oder sei es aufgrund des beherrschenden, schädlichen Einflusses der Großmutter des Kindes, Frau ..., - im Ergebnis nicht in der Lage sei, Hilfen oder auch nur Ratschläge anzunehmen und umzusetzen, die zur Sicherung des Wohls des Kindes unabweisbar erforderlich seien. Vielmehr habe sie die vom Jugendamt wiederholt angebotenen Hilfen zurückgewiesen und jegliche Zusammenarbeit verweigert. Der Mutter, beeinflusst durch die Großmutter, fehle die Erziehungsfähigkeit und sie sei nicht in der Lage, sich um das Kind ausreichend zu kümmern: Ungeachtet der Tatsache, dass das Kind bereits wenige Wochen nach der Geburt Anfang April 2013 vom Jugendamt W.in Obhut habe genommen werden müssen und die Mutter das Kind bis heute noch nie längere Zeit hinweg betreut habe, sondern nur einige wenige Stunden pro Woche begleiteten Umgang mit ihm gehabt habe, gehe diese - be- bzw. verstärkt durch die Großmutter - unbeirrt davon aus, dass nur sie (bzw. die Großmutter) wüsste, was für das Kind gut sei. Die Mutter sei nicht in der Lage, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, sich und ihr Verhalten darauf einzustellen und mit dem Helfersystem zu kooperieren, sondern beharre - unterstützt durch die Großmutter - in obstruktiv-querulatorischer Weise auf vermeintlich ihr zustehenden Rechtspositionen. Anstatt ihr Verhalten an den (Elementar-) Bedürfnissen von E.auszurichten, beschränke sie sich darauf, anderen - insbesondere dem Jugendamt - die Verantwortung für die entstandene Situation zuzuschreiben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die familiengerichtliche Entscheidung Bezug genommen.
Die ergangene Entscheidung ist vor folgendem Hintergrund zu sehen: E.kam am ...Januar 2013 in W.zur Welt; bei ihr wurde ein neonatales Entzugssyndrom aufgrund des mütterlichen Methadonkonsums und deren Nikotinmissbrauchs diagnostiziert. Aufgrund des Entzugssyndroms musste das Kind zunächst auf der Intensivstation mit Polamidon/Methadon substituiert werden; es blieb bis Ende März 2013 in einer W.Klinik. Die Mutter war drogen-, nikotin- und alkoholabhängig; aufgrund ihrer Suchtmittelabhängigkeit und ihres selbstverletzenden Verhaltens ("Ritzen") wurde sie vom Jugendamt W.intensiv betreut. Bereits vor der Geburt von E.wurde die Mutter in ein Substituierungsprogramm aufgenommen. Nach anfänglichem Beikonsum von Drogen hält sie sich heute gut an die ärztlichen Vorgaben, ist drogenfrei und kooperiert mit der Drogennachsorgeeinrichtung.
Bereits vor der Geburt von E.haben sich Mutter und Großmutter im November 2012 an das Jugendamt W.gewandt und um Hilfe gebeten. Daraufhin versorgte das Jugendamt W.die Mutter mit einer Hebamme. Mit der Arbeit der Hebamme war die Mutter nicht zufrieden; die Zusammenarbeit wurde von ihr beendet. Die von ihr stattdessen gewünschten Hilfen wurden vom Jugendamt W.nicht gewährt. Bei den regelmäßigen Besuchen des Kindes in der Klinik durch die Mutter fiel ihre große Ungeschicklichkeit und Unsicherheit auf. Die W.Klinik verlangte daher, dass sie sich mehrere Tage vor der geplanten Entlassung des Säuglings in ihren Haushalt - den Haushalt der Großmutter, in dem sie seinerzeit lebte - in die Klinik einweisen lässt, um die Interaktion Mutter/Kind b...