Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfahren vom Fahrbahnrand; Prüfung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung im zweiten Rechtszug

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Urteil vom 15.08.2002; Aktenzeichen 17 O 253/01)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 15.8.2002 verkündete Urteil des LG Berlin - 17 O 253/01 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache aus den im Wesentlichen zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung keinen Erfolg.

Im Hinblick auf die Ausführungen im zweiten Rechtszug ist ergänzend auf das Folgende hinzuweisen:

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.

Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (vgl. KG, Urt. v. 8.1.2004 - 12 U 184/02; vgl. auch v. 3.11.2003 - 22 U 136/03, MDR 2004, 533 = KGReport Berlin 2004, 38).

Die Beweiswürdigung des LG ist aus Rechtsgründen (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO) nicht zu beanstanden, da das LG die gesetzlichen Vorgaben nach 286 ZPO eingehalten hat.

Diese Vorschrift fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., 2003, § 286 Rz. 13).

Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 25. Aufl. 2003, § 286 Rz. 3, 5).

An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat das LG sich im angefochtenen Urteil gehalten. Entgegen der Ansicht der Beklagten war das LG nicht verpflichtet, die Zeugin H. gegenbeweislich zu hören. Diese Zeugin war von den Beklagten erstinstanzlich nicht benannt worden. Zu Recht hat das LG auch davon abgesehen, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Denn mit einem solchen Gutachter lässt sich die Strecke, die der Beklagte zu 1) vom Fahrbahnrand bis zum Zusammenstoß zurückgelegt hat, nicht ermitteln.

Soweit sich die Beklagten in ihrer Berufungsbegründung auf die Zeugin H. berufen, war dieser Beweisantritt gem. § 531 Absatz 2 ZPO zurückzuweisen, da die Beklagten Gründe, nach denen dieses Verteidigungsmittel zuzulassen wäre, nicht vorgetragen haben.

2. Auch sonst liegt eine Rechtsverletzung nicht vor. Zutreffend geht das LG davon aus, dass die Beklagten den der Klägerin entstandenen Schaden voll zu ersetzen haben.

Der Beklagte zu 1) hat den Unfall grob fahrlässig verursacht. Wer vom Fahrbahnrand anfahren will, hat sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Die Teilnehmer des fließenden Verkehrs können darauf vertrauen, dass der Anfahrende ihren Vorrang beachtet. Bei mehrspurigen Fahrbahnen gilt der Vorrang des fließenden Verkehrs auch für die zunächst freie rechte Fahrspur. Der Anfahrende darf daher nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrspurwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Kommt es dabei auf der rechten Fahrspur zu einem Zusammenstoß mit einem die Spur wechselnden Verkehrsteilnehmer, so ist der Anfahrende auch dann allein haftpflichtig, wenn er sein Vorhaben durch Blinkzeichen angekündigt hatte. Die Verpflichtung des vom Fahrbahnrand auf die Fahrbahn Einfahrenden, auf den fließenden Verkehr besondere Rücksicht zu nehmen, endet räumlich erst dann, wenn jede Einflussnahme des Anfahrvorgangs auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist. Der Zusammenhang zwischen dem Einfahren auf die rechte Fahrspur und der - wenn auch auf einem Fahrstreifenwechsel der Klägerin beruhenden - Kollision ist nicht etwa deswegen aufgehoben, weil der Beklagte zu 1) nach der Aussage des Zeugen G. eine Strecke von ca. 5 bis 6 Meter zurück...

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