Leitsatz (amtlich)
§ 10 Satz 1 StVO ist nicht anzuwenden, wenn ein Radweg über einen abgesenkten Bordstein auf einen dort beginnenden (wenige Meter langen) Fahrradschutzstreifen geführt wird.
Verfahrensgang
LG Berlin (Aktenzeichen 43 O 167/17) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. Januar 2018 verkündete Urteil der Einzelrichterin der Zivilkammer 43 des Landgerichts Berlin - 43 O 167/17 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen geändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 8.115,11 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12. September 2017 zu zahlen. Die Beklagte zu 2) wird weiter verurteilt, an den Kläger Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 8.115,11 EUR vom 02. September 2017 bis zum 11. September 2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger zu 43% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 57% zu tragen. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz haben der Kläger zu 54% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 46% zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung der jeweils anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des nach diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend. Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils wird gemäß § 540 Abs. 2 ZPO Bezug genommen. Diese werden wie folgt ergänzt:
Das Landgericht hat die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 16.000 EUR und zum Ersatz materieller Schäden in Höhe von 1.687,14 EUR verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Unfall habe sich bei Betrieb des vom Beklagten zu 1) geführten Kraftfahrzeuges ereignet. Umstände, die eine Mithaftung des Klägers gemäß § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB rechtfertigten, hätten die Beklagten weder dargelegt noch bewiesen.
Zu Lasten des Klägers greife kein Anscheinsbeweis wegen eines Verstoßes gegen § 10 StVO. Der Kläger sei nicht "Einfahrender" im Sinne dieser Vorschrift, weil er Teil des fließenden Verkehrs gewesen sei. Er habe nämlich bereits vor dem Wechsel auf den Fahrradschutzstreifen den Radweg befahren. Gegenteiliges habe der Beklagte zu 1) in seiner Anhörung nicht angeben können. Dass der Kläger vom Radweg über einen abgesenkten Bordstein auf den Schutzstreifen gewechselt habe, mache ihn nicht zu einem "Einfahrenden" im Sinne von § 10 StVO. Die Verkehrsführung habe ihm deutlich gemacht, dass er vom Radweg über den abgesenkten Bordstein auf den Schutzstreifen habe wechseln müssen. Ein Weiterfahren auf dem Gehweg wäre nicht zulässig gewesen. Einen Vorrang der auf der Fahrbahn befindlichen Fahrzeuge habe er nicht beachten müssen, weil der Radweg als Fahrradschutzstreifen weitergeführt worden sei, der gerade dem Schutz von Radfahrern diene. Die Situation sei derjenigen vergleichbar, dass ein Radweg mit einem abgesenkten Bordstein über eine Kreuzung geführt werde. Da sich der Unfall in engem zeitlich-räumlichem Zusammenhang mit dem Fahren des Klägers auf dem Fahrradschutzstreifen ereignet habe, müssten die Beklagten beweisen, dass der Unfall nicht durch mangelnden seitlichen Abstand verursacht worden sei. Hierzu fehle substantiierter Vortrag. Die Breite des Lkw führe nicht dazu, dass ein "Bedarf" zum Befahren des Schutzstreifens im Sinne von Zeichen 340 zu § 42 StVO bestanden habe.
Der Höhe nach sei ein Schmerzensgeld von 16.000 EUR angemessen. Mithaftungsbegründende Umstände zu Lasten des Klägers, die bei der Bemessung berücksichtigt werden müssten, seien nicht ersichtlich. Der materielle Schaden sei in Höhe von 1.687,14 EUR dargelegt. Von den Zuzahlungen für stationäre Unterbringung/Rehabilitation sei ein Abzug von 10 EUR pro Tag bei einer Haftungsquote von 100 % bzw. 7,50 EUR bei einer Haftungsquote von 75 % vorzunehmen.
Gegen das ihnen am 12. Januar 2018 zugestellte Urteil haben die Beklagten mit am 23. Januar 2018 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 12. März 2018 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Zur Begründung führt die Berufung aus, das Landgericht habe die systematische Einordnung der Überleitung des Radweges in den Schutzstreifen verkannt. Der Radweg sei nicht Fahrbahnbestandteil, der Schutzstreifen hingegen schon. Der Kläger sei deshalb im Sinne des § 10 StVO in den fließenden Verkehr eingefahren. Teil des fließenden Verkehrs sei der auf dem Radweg fahrende Kläger nur im Verhältnis zu Ausfahrenden aus einem Grundstück. Die Situation an einer Kreuzung sei nicht vergleichbar, weil auf diese nicht § 10 StVO, sondern § 9 Abs. 3 S. 1 StVO Anwendung finde. Deshalb spreche ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger. Dieser müsse Tatsachen darlegen und ...