Entscheidungsstichwort (Thema)
Straßenverkehrsrecht. Haftungsabwägung. Verkehrsunfall
Leitsatz (amtlich)
Zur Haftungsabwägung bei einem Verkehrsunfall, bei dem ein aus einer Parklücke rückwärts Ausfahrender mit einem aus einem Grundstück in die Straße Einfahrenden zusammenstößt.
Normenkette
ZPO §§ 288, 513; StVO § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 5, § 10; StVG §§ 7, 17 Abs. 3, § 18; VVG § 115
Verfahrensgang
AG St. Wendel (Urteil vom 27.05.2010; Aktenzeichen 14 C 591/09) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung seiner Berufung im Übrigen das Urteil des Amtsgerichts St. Wendel vom 27.5.2010 – Az. 14 C 591/09 – abgeändert und die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 315,64 EUR nebst Verzugszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.4.2009 sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 83,54 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 80% und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 20%. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 60% und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 40%.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
Der Kläger verlangt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am … in … in der … ereignet hat. Zu dem Unfall kam es, als die Zeugin … mit dem Fahrzeug des Klägers (…) aus einer seitlich an der … gelegenen Parklücke rückwärts in die Fahrbahn einfuhr und hierbei mit dem Fahrzeug der Beklagten zu 1) kollidierte, das bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist und aus einer bei dem Landratsamt gelegenen Grundstücksausfahrt auf die … einfuhr. Erstinstanzlich hat der Kläger behauptet, die Zeugin … habe gestanden, als das Beklagtenfahrzeug in ihr Fahrzeug hinein gefahren sei. Er beziffert seinen Schaden mit (1.200 EUR Restwert + 353,19 EUR Sachverständigenkosten + 25 EUR Unkostenpauschale =) 1.578,19 EUR, den er zusammen mit vorgerichtlichen Anwaltskosten von 229,55 nebst gesetzlichen Zinsen geltend gemach hat. Die Beklagtenseite hat vorgetragen, die Erstbeklagte sei erst eingefahren, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die … frei ist. Als sie bereits eingebogen war, sei die Zeugin … unerwartet rückwärts in die Straße eingebogen.
Das Erstgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zeugin … sei zum Unfallzeitpunkt – ebenso wie die Erstbeklagte – in Bewegung gewesen und habe gegen ihre Sorgfaltspflicht beim Rückwärtsfahren gem. § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Da die Erstbeklagte im Zeitpunkt der Kollision bereits im fließenden Verkehr gefahren sei, habe der Kläger die Unfallfolgen allein zu tragen.
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Ersatzanspruch in hälftiger Höhe weiter. Er meint, das Erstgericht habe verkannt, dass auch die Erstbeklagte ein Sorgfaltsverstoß treffe, weil sie entgegen § 10 StVO nicht mit der gebotenen Sorgfalt in die … eingefahren sei. Es sei daher eine Haftungsteilung geboten.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg. Die angefochtene Entscheidung beruht insoweit auf einer Rechtsverletzung zum Nachteil des Klägers (§ 513 ZPO).
1. Mit Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass die Parteien grundsätzlich jeweils für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und er für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Das wird in der Berufung auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.
2. Soweit das Erstgericht angenommen hat, der Unfall sei durch einen Verstoß der Fahrerin des Klägerfahrzeuges gegen § 9 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO) verursacht worden, vermag die Kammer dem zwar nicht zu folgen. Im Verhältnis der hiesigen Parteien untereinander kommt diese Vorschrift nämlich ebenso wenig wie die Vorschrift des § 10 StVO, wonach auch der – wie hier die Unfallbeteiligten – aus einem Grundstück in die Fahrbahn Ausfahrende zur höchstmöglichen Sorgfalt verpflichtet ist, unmittelbar zur Anwendung. Dies führt indessen im Ergebnis zu keiner abweichenden Beurteilung des Verursachungsbeitrages der Zeugin Hoffmann.
a) Ungeachtet der Frage, ob – wie bisher überwiegend angenommen – § 10 Satz 1 StVO ausschließlich den fließenden Verkehr schützt (vgl. OLG Hamm, VRS 45, 461; KG VRS 107, 96; Urteil der Kammer vom 14. November 2008 – 13 S 180/08; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. § 10 StVO Rdn. 7 f.) oder ob, wie der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nahelegen, alle Nutzer der öffentlichen Fahrbahn einschließlich Rad- und Fußgängerwegen von dem Schutzbereich der Vorschrift erfasst werden (so Jagow/Burmann/Heß, Straß...