Entscheidungsstichwort (Thema)
Freispruch. Bußgeldverfahren. Geschwindigkeitsüberschreitung. Messfoto. Fahreridentität. Identifizierung. Urteilsgründe. Beweiswürdigung. Gesicht. Augen. Haaransatz. Brillenträger. Denkgesetz. Sachkunde. Sachverständigengutachten. Vergleichsgutachten. Anthropologie. Bußgeldurteil. Lichtbildabgleich. Rechtsfehler. Gesamtwürdigung. Anforderung. Gesichtspartie
Leitsatz (amtlich)
1. Im Falle eines Freispruchs ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter lediglich einzelne Umstände herausgreift, die gegen die Täterschaft des Betroffenen sprechen, eine Gesamtwürdigung aller hierfür relevanten Indizien jedoch unterlässt.
2. Dies gilt auch dann, wenn der Tatrichter bei einer nur eingeschränkt zur Identifizierung geeigneten Abbildung des Täters lediglich aufgrund von einzelnen Merkmalen, die seiner Meinung nach Unähnlichkeiten zum Betroffenen aufweisen, zu dem Ergebnis gelangt, der Betroffene sei nicht der Täter gewesen, und dabei gar nicht in Betracht zieht, dass vermeintliche Unähnlichkeiten auch durch technische Einflüsse bei der Lichtbildaufnahme, Veränderung der Mimik und dergleichen hervorgerufen sein können.
3. Gründet der Tatrichter seine Überzeugung von der Nichttäterschaft des Betroffenen auf Gesichtspartien, die er gar nicht erkennt (hier: "erahnbarer" Haaransatz), stellt dies einen Verstoß gegen Denkgesetze dar.
4. Äußeren Umständen, die jederzeit veränderbar sind (hier: Tragen einer Brille), kommt für die Täteridentifizierung kein Beweiswert zu.
Normenkette
StPO § 244 Abs. 2, §§ 261, 267 Abs. 1 S. 3, Abs. 5 S. 1; OWiG § 46 Abs. 1, § 71 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Tatbestand
Das AG hat den Betr. vom Vorwurf der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 54 km/h freigesprochen, weil es aufgrund eines Vergleichs des Messbilder mit dem Betr. zu der Überzeugung gelangte, dass dieser nicht als Fahrer des Tatfahrzeugs in Betracht komme.
Die gegen den Freispruch eingelegte Rechtsbeschwerde der StA führte zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung des Sache.
Entscheidungsgründe
I.
Die statthafte (§ 79 I 1 Nr. 3 OWiG) und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde der StA hat mit der Sachrüge - zumindest vorläufigen - Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht mehr bedarf. Die angefochtene Entscheidung unterliegt der Aufhebung, weil die Darstellung der Gründe schon nicht den Anforderungen an ein freisprechendes Urteil (§ 267 V 1 StPO i.V.m. § 71 I OWiG) genügt und im Übrigen die Beweiswürdigung grundlegende Rechtsfehler aufweist.
1. Kann sich ein Gericht nicht von der Täterschaft eines Betr. überzeugen, ist zunächst der ihm zur Last gelegte Vorwurf aufzuzeigen. Sodann muss in einer geschlossenen Darstellung dargelegt werden, welchen Sachverhalt das Gericht als festgestellt erachtet. Erst auf dieser Grundlage ist zu erörtern, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Dies hat so vollständig und genau zu geschehen, dass das Rechtsbeschwerdegericht in der Lage ist nachzuprüfen, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht (st.Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 24.05.2017 - 2 StR 219/16; 16.06.2016 - 1 StR 50/16 [jeweils bei juris]; 18.05.2016 - 2 StR 7/16 = wistra 2016, 401 und vom 05.02.2013 - 1 StR 405/12 = NJW 2013, 1106 = NStZ 2013, 334; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.02.2017 - 3 Ss OWi 68/17 = BA 54, 208; Urt. v. 12.11.2014 - 3 OLG 8 Ss 136/14 = OLGSt StPO § 267 Nr 27, jew. m.w.N.). Lassen sich ausnahmsweise überhaupt keine Feststellungen treffen, was im vorliegenden Verfahren aber von vornherein fern liegt, so ist auch dies in den Urteilsgründen unter Angabe der relevanten Beweismittel darzulegen (vgl. BGH, Urt. v. 10.07.1980 - 4 StR 303/80 = NJW 1980, 2423 = MDR 1980, 949; OLG Bamberg, Beschl. vom 28.09.2017 - 3 Ss OWi 1330/17 [bei juris]).
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn es wird nicht mitgeteilt, welche Feststellungen getroffen werden konnten. Vielmehr beschränkt sich das Tatgericht auf die bloße Schilderung eines Geschwindigkeitsverstoßes und den Hinweis, es könne nicht festgestellt werden, wer der Fahrer gewesen sei, der Betr. sei es jedenfalls nicht gewesen. In diesem Zusammenhang fehlt bereits die Mitteilung, ob und ggf. wie der Betr. sich zu dem Tatvorwurf eingelassen hat. Ferner wären vor allem Feststellungen dazu erforderlich gewesen, ob der Betr. ggf. Eigentümer, Besitzer oder Halter des Fahrzeugs war, mit dem der Geschwindigkeitsverstoß begangen wurde. Denn gerade diesen Umständen käme im Rahmen der gebotenen, vom AG allerdings unterlassenen Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls durchaus ein beachtlicher Indizwert insbesondere unter Berücksichtigung einer etwaigen Einlassung und deren Plausibilität zu (OLG Bamberg a.a.O.). Aufgrund dieses Darstellungsmangels kann der Senat schon im Ansatz nicht prüfen, ob nicht auch Indizien vorhanden sind, die bei der erforderlichen Gesamtscha...