Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteilsanforderungen an bedingt vorsätzlichen Abstandsverstoß. unzulässige Bezugnahme auf Videosequenz. Abstandsverstoß. Abstandsmessung. Toleranzabzug. Eventualvorsatz. Videoaufzeichnungsstrecke. Fahreridentifizierung. Verkehrsfehlergrenze. Bezugnahme. Datenträger. Videosequenz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Verurteilung wegen (bedingt) vorsätzlicher Nichteinhaltung des Mindestabstandes setzt eine Auseinandersetzung mit den kognitiven und voluntativen Vorsatzelementen voraus und kann in der Regel auch dann nicht allein mit dem Ausmaß der Abstandsunterschreitung begründet werden, wenn sich die Unterschreitung über den gesamten Beobachtungsbereich der Videomessung erstreckt (Fortführung von OLG Bamberg, Beschl. v. 20.10.2015 - 3 Ss OWi 1704/10 = DAR 2010, 708 = ZfS 2011, 50; = OLGSt StPO § 267 Nr 23).

2. Die Bezugnahme nach § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auf eine in Form einer Daten-CD bei den Akten befindliche und in der Hauptverhandlung mit Hilfe eines Abspielgeräts in Augenschein genommene (bewegte) digitale Videoaufzeichnung mit der den Abstandsverstoß dokumentierenden Videosequenz ist unwirksam, weil es sich bei ihr nicht um eine die Außenwelt unmittelbar wiedergebende Abbildung handelt (Anschluss an BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 332/11 = BGHSt 57, 53 = NJW 2012, 244 = NStZ 2012, 228 = BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 3 Verweisung 4).

 

Normenkette

StPO § 267 Abs. 1 S. 3; StVO § 4 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Das AG hat den Betr. wegen vorsätzlicher Nichteinhaltung des Mindestabstandes von einem vorausfahrenden Fahrzeug (§ 4 I 1 StVO) zu einer Geldbuße von 360 Euro verurteilt. Nach den Feststellungen steuerte der Betr. am 14.10.2016 gegen 11.46 Uhr einen Pkw auf der BAB A 3 in Richtung Passau. Bei Kilometer 1.485 hielt der Betr. bei einer Geschwindigkeit von 131 km/h zum vorausfahrenden Fahrzeug einen Abstand von nur 22 Metern und damit von weniger als 4/10 des halben Tachowertes ein, wobei er die Unterschreitung des erforderlichen Abstands billigend in Kauf nahm. Die hiergegen gerichtete, mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründete Rechtsbeschwerde des Betr. erwies sich als begründet.

 

Entscheidungsgründe

I. Die nach § 79 I 1 Nr. 1 OWiG ohne weiteres aufgrund der Verurteilung zu einer Geldbuße von mehr als 250 Euro statthafte und demgemäß keiner - wovon die Verteidigung allerdings auszugehen scheint - Zulassung gemäß § 79 I 2 OWiG bedürfende und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde erweist sich auf die Sachrüge hin als erfolgreich. Auf die den Begründungsanforderungen des § 344 II 2 StPO i.V.m. § 79 III 1 OWiG ohnehin nicht genügende Verfahrensrüge kommt es nicht an.

1. Die Urteilsgründe erweisen sich als sachlich-rechtlich lückenhaft im Sinne von § 71 I OWiG i.V.m. § 267 I StPO und zwingen den Senat zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Zwar lässt sich den Urteilsgründen noch entnehmen, dass bei der "Geschwindigkeitsmessung [...] zu Gunsten des Betroffenen eine Messtoleranz von 5 km/h berücksichtigt" wurde, womit nach Sachlage offenbar die Berücksichtigung der Verkehrsfehlergrenzen der für die (standardisierte) Abstandsbestimmung ermittelten Geschwindigkeitswerte gemeint ist. Die Urteilsgründe teilen jedoch nicht mit, mit welchem konkreten Messverfahren "die Messung ordnungsgemäß durchgeführt" und damit die verfahrensgegenständliche Abstandsunterschreitung tatsächlich festgestellt worden ist.

2. Wenn auch mit Blick auf das Bußgeldverfahren und hier gerade für das 'entkriminalisierte' Verkehrsrecht als Massenverfahren des täglichen Lebens (auch zur historischen Entwicklung des OWi-Verfahrens vgl. Freymann/Wellner/Grube, Bezüge zum StVR, Rn. 1 f., 10 ff., 137, 155 ff.; ferner Burhoff/Gieg, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 4. Aufl., Rn. 149 ff., jeweils m.w.N.) wegen der entsprechend seinem Zweck gebotenen einfachen und schnellen Erledigung hinsichtlich der Abfassung der Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind (BGHSt 43, 22/26 f. = NJW 1997, 1862; BGH, Beschl. v. 08.05.2013 - 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243, 252 f. = DAR 2013, 477 = NJW 2013, 2837; BGHSt 39, 291, 299; ferner KG, Beschl. vom 09.10.2015 - 162 Ss 77/15 = VRS 129 [2015], 137; OLG Bamberg StraFo 2016, 116; OLG Bamberg, Beschl. v. 29.12.2016 - 3 Ss OWi 1566/16; 14.11.2016 - 3 Ss OWi 1164/16 = DAR 2017, 89 und 06.02.2017 - 3 Ss OWi 156/17; OLG Hamburg, Beschl. v. 27.03.2015 - 1 RB 58/14 = NZV 2016, 102 = NStZ 2015, 661 = VRS 128 [2015], 134 [für verständigungsbezogene Mitteilungspflichten]; OLG Bamberg ZfS 2013, 290 = VM 2013, Nr. 30 = VRR 2013, 111 [Deutscher]; OLG Düsseldorf DAR 2011, 408; OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 322), kann doch für den Inhalt des Urteils in Bußgeldsachen prinzipiell nichts anderes als für Urteile in Strafsachen gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren bilden die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Sie müssen deshalb auch in Bußgeldsachen so beschaffen...

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