Leitsatz (amtlich)

GG Art. 103 I; OWiG § 74 II

1. Die Regelung des § 74 II OWiG birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Betroffenen das rechtliche Gehör (Art. 103 I GG) entzogen wird. Der Begriff der 'genügenden Entschuldigung' darf deshalb nicht eng ausgelegt werden.

2. Den Betroffenen trifft hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder zum lückenlosen Nachweis. Das Gericht hat vielmehr, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt oder Zweifel an einer genügenden Entschuldigung bestehen, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht - gegebenenfalls im Wege des Freibeweises - nachzugehen (Anschluss u.a. an BayObLGSt 1998, 79/82; 2001, 14/16; OLG Bamberg wistra 2007, 79 f.; NZV 2009, 303 f.; NZV 2011, 409 f.; OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.03.2010 - 3 Ss [OWiZ) 37/10 [bei [...]]; KG DAR 2011, 146 f.).

3. Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt (wenigstens) voraus, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (Anschluss u.a. an KG VRS 108, 110 ff.; OLG Bamberg OLGSt StPO § 329 Nr. 29 = DAR 2008, 217 [Ls]; BayObLGSt 1997, 145/147 f.; 1998, 79/81 f.).

4. Legt der Betroffene eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, besteht regelmäßig ein konkreter Hinweis auf die Existenz eines berechtigten Entschuldigungsgrunds, sofern nicht Gründe dafür vorliegen, dass das Attest als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig oder unzureichend anzusehen ist (Anschluss an OLG Hamm NZV 2011, 562 f.).

5. In der Vorlage des ärztlichen Attests durch den Betroffenen liegt regelmäßig zugleich die Entbindung des ausstellenden Arztes von seiner Schweigepflicht.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 74 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Bußgeldstelle setzte gegen den Betr. mit Bußgeldbescheid vom 24.03.2011 wegen einer am 08.02.2011 begangenen innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 21 km/h eine Geldbuße von 160 Euro fest und ordnete zugleich ein Fahrverbot für die Dauer 1 Monats an. Den Einspruch des Betr. hat das AG in Abwesenheit des Betr. und seines Verteidigers mit Urteil vom 21.07.2011 nach § 74 II OWiG verworfen. Hiergegen wendet sich der Betr. mit seinem als "Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde" bezeichneten Rechtsbehelf vom 02.08.2011, mit dem er - sinngemäß - die rechtsfehlerhafte Anwendung des § 74 II OWiG beanstandet. Das Rechtsmittel erwies sich als erfolgreich.

 

Entscheidungsgründe

I. Die ohne weiteres nach § 79 I 1 Nr. 2 OWiG statthafte, keiner Zulassung bedürfende sowie frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde erweist sich unbeschadet der knappen Ausführungen zur Rügerechtfertigung mit der den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 344 II 2 StPO i.V.m. § 79 III 1 OWiG noch genügenden Verfahrensrüge zumindest vorläufig als erfolgreich, weil das AG - wie die GenStA in ihrer Antragsschrift zutreffend ausführt - den Begriff der 'genügenden Entschuldigung' i.S.v. § 74 II OWiG verkannt und demgemäß das Fernbleiben des Betr. in der Hauptverhandlung zu.U.nrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat.

1. Der Begriff der 'genügenden Entschuldigung' darf nicht eng ausgelegt werden. Denn ähnlich wie § 329 I 1 StPO enthält auch § 74 II OWiG eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angekl. bzw. Betr. nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Betr. das ihm nach Art. 103 I GG verfassungsrechtlich verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Betr. geboten.

2. Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betr. einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Betr. unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich der Betr. genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Betr. trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis; vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen (st.Rspr., z.B. BGHSt 17, 391/396 f.; BGHR StPO § 329 I 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschluss vom 19. 10. 2004 - 1 Ob OWi 442/04; OLG Stuttgart DAR 2004, 165/166; OLG Bamberg, Urteil vom 26. 2. 2008 - 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 = DAR 2...

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