Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen einer Auslieferung aufgrund eines Abwesenheitsurteils und zur Zulässigkeit der Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung an die Republik Polen unter Berücksichtigung des Begründeten Vorschlags der Kommission vom 20.12.2017 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen. Strafprozessrecht. Europäischer Haftbefehl. Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung nach Polen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Rahmen des § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG steht eine bloße rechtliche Fiktion der Zustellung der Ladung nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaates der tatsächlichen Mitteilung des vorgesehenen Orts und Termins der Verhandlung an den Verfolgten nicht gleich.

2. Besteht bei einer Verurteilung in Abwesenheit für den Verfolgten kein generelles und unbedingtes Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens für den Verfolgten, so genügt dies nicht den Anforderungen des § 83 Abs. 4 IRG.

3. Trotz des Begründeten Vorschlags der Kommission vom 20.12.2017 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (COM[2017] 835 final) ist jedenfalls bei einer Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung nach Polen nicht ohne weiteres die Annahme begründet, dass das Grundrecht des Verfolgten auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt seines Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet würde.

4. Auch eine drohende Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes ist für den Fall der Auslieferung eines Verfolgten nach Polen nicht ersichtlich.

 

Normenkette

IRG § 83 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4

 

Tenor

I. Die Auslieferung des Verfolgten ... an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung der Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Szczytno, VII. Auswärtige Strafkammer mit Sitz in Pisz, vom 27.07.2014 (Az.: ...) wird für zulässig erklärt.

II. Die Auslieferung des Verfolgten ... an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2018 (Az.: ...) wird für unzulässig erklärt.

 

Gründe

I.

Die polnischen Justizbehörden ersuchen mit dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Olsztyn vom 11.06.2018 (Az. ...) um die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Strafvollstreckung. Mit diesem Europäischen Haftbefehl wird um die Festnahme und Übergabe des Verfolgten zum Zweck der Vollstreckung der Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Szczytno, VII. Auswärtige Strafkammer mit Sitz in Pisz, vom 27.07.2014 (Az.: ...) sowie zum Zweck der Vollstreckung der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2018 (Az.: ...) ersucht.

1. Nach dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Olsztyn vom 11.06.2018 erfolgte die Verurteilung des Verfolgten durch das Urteil des Amtsgerichts Szczytno, VII. Auswärtige Strafkammer mit Sitz in Pisz, vom 27.07.2014 wegen eines am 25.03.2014 begangenen Diebstahls einer Damenhandtasche. Als anwendbare Bestimmung des polnischen Strafgesetzbuchs wird Artikel 278 Abs. 1 genannt.

2. Die Verurteilung des Verfolgten durch das Urteil des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2018 erfolgte nach dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Olsztyn vom 11.06.2018 wegen folgender elf Straftaten: ...

3. Am 20.07.2018 hat das Amtsgericht Bremen gegen den Verfolgten eine Festhalteanordnung erlassen. Bei seiner richterlichen Vernehmung hatte sich der Verfolgte nicht mit einer Auslieferung im vereinfachten Verfahren einverstanden erklärt. Der Senat hat mit Beschluss vom 27.07.2018 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Bremen vom 23.07.2018 einen Auslieferungshaftbefehl erlassen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hat am 13.08.2018 beantragt, die Auslieferung hinsichtlich des Urteil des Amtsgerichts Szczytno, VII. Auswärtige Strafkammer mit Sitz in Pisz, vom 27.07.2014 für zulässig und hinsichtlich des Urteils des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2018 für unzulässig zu erklären.

Der Beistand des Verfolgten hat mit Schriftsatz vom 28.08.2018 Stellung genommen und beantragt, die Auslieferung hinsichtlich beider Urteile für unzulässig zu erklären.

II.

Da der Verfolgte sich mit seiner Auslieferung nicht einverstanden erklärt hat, hatte der Senat gemäß den §§ 29, 32 IRG über die Zulässigkeit der Auslieferung zu befinden.

1. In Übereinstimmung mit dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Bremen vom 13.08.2018 war die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2018 (Az.: ...) für unzulässig zu erklären.

a. Nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG ist die Auslieferung im Auslieferungsverkehr mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union unzulässig, wenn der Verfolgte bei einer Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung zu der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich erschienen ist. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben, da die Verurteilung durch das Urteil des Amtsgerichts Pisz vom 11.01.2...

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