Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurücktreten der Tiergefahr des von einem Hund über einen längeren Zeitraum getriebenen Pferdes; Ersatzfähigkeit der Heilbehandlungskosten bei geringem wirtschaftlichem Wert eines Tiers, an dem ein hohes Affektionsinteresses besteht
Leitsatz (amtlich)
1. Die von einem Hund ausgehende Tiergefahr, die sich darin zeigt, dass er ein Pferd über einen längeren Zeitraum und über eine längere Strecke vor sich hertreibt, überwiegt gegenüber der von dem getriebenen Pferd als Fluchttier innewohnende Tiergefahr derart, dass die Tiergefahr des Pferdes vollumfänglich zurücktritt und der Hundehalter für die bei der Flucht des Pferdes durch wiederholte Stürze entstanden Schäden zu 100 % haftet.
2. Auch bei einem nur geringen wirtschaftlichen Wert des verletzten Tiers sind die Heilbehandlungskosten in vollem Umfang ersatzfähig, wenn der Eigentümer des verletzten Tiers ein hohes Affektionsinteresse an dem seit vielen Jahren in seinem Eigentum stehenden Tier hat, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung des Tiers ohne das schädigende Ereignis gut war, die Erfolgsaussichten der Heilbehandlungsmaßnahmen aus ex ante-Sicht gegeben waren und die erfolgten Heilbehandlungsmaßnahmen und damit im Zusammenhang stehenden Kosten vertretbar waren.
Normenkette
BGB §§ 242, 249, 251 Abs. 2, §§ 254, 833 S. 1
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Urteil vom 31.07.2020; Aktenzeichen 1 O 35/20) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das am 31. Juli 2020 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden (Az. 1 O 35/20) wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil sowie das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 14.822,56 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt Schadensersatz aus Tierhalterhaftung wegen der Verletzung seines damals 24 Jahre alten Wallachs "W." aufgrund eines Vorfalls vom 4. August 20XX.
Der Kläger ist Landwirt und Halter des streitbefangenen Pferdes "W.", welches am 4. August 20XX mit einem zweiten Pferd auf einer Pferdekoppel stand, die mit einem Weidezaun umfriedet war.
Die Beklagte war am 4. August 20XX Halterin eines Hundes, der an diesem Tag einen großen blauen Plastikkragen (als Beißschutz) um den Hals trug. Der Hund, für den die Beklagte eine Tierhalterhaftpflichtversicherung abgeschlossen hatte, lief auf die vorgenannte Pferdekoppel. Im weiteren Verlauf verletzte sich das Pferd "W." schwer, nachdem es aus der Koppel ausgebrochen, gestürzt und weggelaufen war, wobei die Einzelheiten zwischen den Parteien in erster Instanz streitig waren.
Der Kläger ließ "W." durch den Tierarzt Dr. K. nottierärztlich versorgen, wofür ihm Kosten in Höhe von 422,41 EUR in Rechnung gestellt wurden. Anschließend erfolgte eine Behandlung in der Pferdeklinik H. vom 4. August 20XX bis 2. September 20XX, wo das Pferd mehrfach - erfolgreich - operiert wurde. Dadurch entstanden dem Kläger Kosten in Höhe von 14.379,15 EUR.
Das damals 24 Jahre alte Pferd "W. hatte am Vorfallstag nach einem Wertgutachten der Sachverständigen B. W. vom 4. Oktober 20XX (vgl. Bl. 58 d. A.) einen Verkehrswert von ca. 300,00 EUR (Wert eines Weidekameraden, der als "Gesellschafter" für anderen Pferde zur Verfügung steht").
In erster Instanz haben die Parteien über die Aktivlegitimation des Klägers, den Schadenshergang bzw. die Schadensverursachung durch den Hund der Beklagten, die Frage einer Mithaftung des Klägers aus Tiergefahr des verletzten Pferdes und über die Verhältnismäßigkeit der angefallenen Behandlungskosten im Hinblick auf den Wert des Pferdes und die Erstattungsfähigkeit einzelner weiterer Schadenspositionen gestritten.
Das Landgericht ist nach Vernehmung der Zeugin P. von einer Alleinhaftung der Beklagten ausgegangen und hat der Klage - soweit für das Berufungsverfahren von Interesse - hinsichtlich der geltend gemachten Tierbehandlungskosten im vollen Umfang und in Höhe von 21,00 EUR wegen geltend gemachter Fahrtkosten stattgegeben und diese im Übrigen abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass der Hund der Beklagten das streitbefangene Pferd gescheucht habe, so dass dieses versucht habe, über den Zaun zu springen, dabei gestürzt und dann weiter weggelaufen sei, wobei der Hund hinter dem Pferd hergelaufen sei und dieses bis in den nächsten Ort "bis aufs Äußerste getrieben" habe. Der Kläger sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch Eigentümer des Pferdes, was sich auch aus der gesetzlichen Vermutung gemäß § 1006 Abs. 1 BGB ergebe. Der klägerische Anspruch sei nicht aufgrund eines Mitverschuldens zu kürzen. Vielmehr überwiege die Tiergefahr des Hundes derart, dass die vom Pferd ausgehende Tiergefahr, die sich lediglich aus der bloßen Anwesenheit des Pferdes auf der Weide ergebe, dahinter zurücktrete. Dem Kläger stünde Ersatz der - der Höhe nach unstreitigen - Tierbehandlungskosten aus den Tierarztrechnung...