Leitsatz (amtlich)
1. Bei Glatteisunfällen spricht ein Anschein dafür, dass die Unfallverletzungen bei Beachtung der Streupflicht vermieden worden wären, wenn der Unfall innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht stattgefunden hat. Dafür notwendig und ausreichend ist es, dass ein Glättezustand im Verantwortungsbereich des Streupflichtigen nachgewiesen wird.
2. Zu der den Streupflichtigen entlastenden Zumutbarkeitsprüfung gehört die Erwägung, dass die Streupflicht nicht verletzt wäre, wenn erst kurz vor dem Unfall auf den gefrorenen Boden Regen niedergegangen wäre und der Streupflichtige auf eine sich dadurch bildende Glätte noch nicht mit Streuen reagiert haben müsste. Der Verletzte hat daher das Vorliegen einer die Streupflicht begründenden Wetter- und Straßenlage zu beweisen, während der Streupflichtige für das Vorliegen einer Ausnahmesituation, die das Streuen unzumutbar machte, beweispflichtig ist.
3. Die nur im Rahmen des Zumutbaren bestehende Pflicht, bei Schnee- und Eisglätte die Gehwege mit Streugut abzustumpfen, entfällt, wenn es zwecklos ist, den Bürgersteig zu streuen, da sich Glätte alsbald wieder neu bilden würde. Der Streupflichtige braucht somit nicht tätig zu werden, wenn angesichts der konkreten Wetterlage das Bestreuen mit abstumpfenden Mitteln nur zu einer unwesentlichen oder ganz vorübergehenden Minderung der dem Verkehr drohenden Gefahren führt, was insb. bei Glatteis durch anhaltenden Regen auf gefrorenen Boden gilt.
4. Sofern die die Glätte verursachenden Niederschläge enden, ist dem Streupflichtigen eine angemessene Beobachtungs- und Vorbereitungszeit zuzubilligen, sodass es noch hinnehmbar sein kann, wenn der Streupflichtige erst nach Ablauf von etwa einer Stunde erneut streut; generell darf das Ende des (gefrierenden) Regens abgewartet werden, auch wenn hierdurch Glatteis entsteht. Dies gilt nur dann nicht, wenn den Sicherungspflichtigen aufgrund besonderer Umstände eine erhöhte Aufmerksamkeit und die Pflicht zu besonderer Vorsorge treffen.
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Urteil vom 10.10.2003; Aktenzeichen 8 O 272/03) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 10.10.2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 8. Zivilkammer des LG Verden wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Berufung ist unbegründet, zu Recht hat das LG die Klage abgewiesen, da der Kläger vom Beklagten keinen Schadensersatz verlangen kann.
1. Ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Streupflicht steht dem Kläger gegen den Beklagten nicht zu. Zwar war der Beklagte kraft Übertragung der Streupflicht verkehrssicherungspflichtig; die Pflicht zum Streuen traf ihn im Grundsatz auch am 19.12.2002, wobei ein Anschein für die Verletzung der Streupflicht spricht (a). Aufgrund der konkreten Wetterverhältnisse an diesem Tag war es jedoch – wie der Beklagte nachgewiesen hat – für ihn nicht geboten, zum Zeitpunkt des Sturzes – kurz vor 08:00 Uhr morgens – den Gehweg vor seinem Haus abzustreuen bzw. abstreuen zu lassen (b).
a) Den Beklagten traf die Verkehrssicherungspflicht für den zum öffentlichen Verkehrsraum gehörenden Fußweg vor seinem Haus, auf dem der Beklagte – wie die Beweisaufnahme vor dem LG ergeben hat – gestürzt ist. Hinsichtlich des Gehweges hat die Gemeinde … den Verkehr eröffnet, sodass sie primär die Streupflicht trifft. Gemäß Ortssatzung ist indes die Reinigungspflicht für die Gehwege den Eigentümern der angrenzenden bebauten und unbebauten Grundstücke auferlegt worden. § 3 Abs. 6 dieser Satzung sieht nach dem nicht bestrittenen Vortrag des Beklagten vor, dass bei Glätte werktags in der Zeit von 07:30 Uhr bis 20:00 Uhr zur Sicherung des Fußgängertagesverkehrs die Gehwege zu streuen sind, eine solche Übertragung auf den sodann verkehrssicherungs-pflichtigen Anlieger ist zulässig (vg. Geigel/Schlegelmilch, Der Haftpflichtprozess, Kap. 14 Rz. 168). Regelmäßig kann auch angenommen werden, dass das Ortsstatut die im Rahmen der deliktischen Verantwortlichkeit maßgebliche Erwartung des Verkehrs angemessen berücksichtigt.
Zu Gunsten des Klägers streitet zudem der Beweis des ersten Anscheins, dass er in Folge einer Streupflichtverletzung des Beklagten zu Fall gekommen ist. Denn bei Glatteisunfällen spricht ein Anschein dafür, dass die Unfallverletzungen bei Beachtung der Streupflicht vermieden worden wären, wenn der Unfall innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht stattgefunden hat (vgl. BGH v. 4.10.1983 – VI ZR 98/82, MDR 1984, 219 = NJW 1984, 432 [433] = VersR 1984, 40 [41]; vgl. auch das OLG Celle, Urt. v. 2.2.2000 – 9 U 121/99). Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist es bei einem Glatteisunfall zunächst notwendig und ausreichend, dass ein Glättezustand im Verantwortungsbereich des Streupflichtigen nachgewiesen wird; dies ist hier der Fall. Weitergehende Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast zu stellen, würde den Verletzten überfordern, der die besonderen Verhältnisse an der Unfallstelle, aus denen sich ...