Leitsatz (amtlich)
1. Aus der Befugnis eines Bieters, die Rechtmäßigkeit einer Aufhebungsentscheidung einem Vergabenachprüfungsverfahren zu unterwerfen, ergibt sich nicht ohne Weiteres ein Anspruch gegen die Vergabestelle auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens bis zur Zuschlagserteilung. Ein solcher Anspruch scheidet insb. aus (und kann mithin auch nicht Gegenstand einer Anordnung der Vergabekammer sein), wenn die Vergabestelle von dem ausgeschriebenen Vorhaben endgültig Abstand nimmt.
2. § 25 Nr. 1 Abs. 1b VOB/A begründet kein Wertungsermessen für die Vergabestelle, sondern zwingt zum Ausschluss, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen hierfür erfüllt sind. Soweit letztere an § 21 Nr. 1 Abs. 1 S. 3 VOB/A anknüpfen, wird diese Sollvorschrift aber die Möglichkeit eröffnen, einen Wertungsausschluss nicht als geboten zu erachten, wenn das Fehlen der geforderten Angaben unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu einer Wettbewerbsbeeinträchtigung führen kann.
3. Diese Voraussetzung ist regelmäßig nicht erfüllt, wenn die Vergabestelle mit den Vergabeunterlagen vom Bieter zulässigerweise produktidentifizierende Angaben (Hersteller- und Typenbezeichnungen) für zur Verwendung bei der Auftragserfüllung vorgesehene Produkte verlangt und der Bieter diese Angaben mit seinem Angebot nicht oder nicht vollständig macht.
4. Soweit die Vergabestelle nach Maßgabe von § 24 VOB/A zulässige Nachverhandlungen führen darf, besteht vorbehaltlich der Grenzen von Treu und Glauben jedenfalls kein entsprechender Anspruch des Bieters hierauf.
5. Aus der Verpflichtung der Vergabestelle, die aus § 25 VOB/A ersichtlichen Wertungsstufen zu beachten, folgt nicht, dass die anfänglich übersehene oder unbeanstandet gebliebene Unvollständigkeit eines Angebots nicht auch dann – auf der ersten Wertungsstufe – noch zum Wertungsausschluss führen dürfe, wenn das Angebot zunächst als vermeintlich wertungsfähig in die engere Wahl gezogen wurde.
Verfahrensgang
Vergabekammer Sachsen (Beschluss vom 05.09.2002; Aktenzeichen 1/SVK/73–02) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Antragsgegners vom 23.9.2002 wird der Beschluss der 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen vom 5.9.2002 – 1/SVK/73–02 – abgeändert und der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Nachprüfungsverfahrens. Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten im Beschwerdeverfahren war für den Antragsgegner notwendig.
3. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis zu 650.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.1. Der Antragsgegner hatte Rohbauarbeiten am Neubau einer Jugendstrafvollzugsanstalt ausgeschrieben, die im Jahre 2001 beginnen sollten. Dabei hatte er in einer dem Leistungsverzeichnis beigefügten „Fabrikateliste”, die zu bestimmten Positionen eine detaillierte technische Beschreibung der zu verwendenden Produkte enthielt und zum Teil, aber nicht durchgehend, Leitfabrikate mit dem Zusatz „oder gleichwertiger Art” vorgab, vom Bieter auszufüllende Leerzeilen vorgesehen, in denen nach dem „Hersteller/Typ” gefragt wurde. Die in den Vergabeunterlagen enthaltenen „zusätzlichen Vertragsbedingungen” des Antragsgegners treffen in diesem Zusammenhang unter Ziff. 1.2 folgende Bestimmung:
„Ist im Leistungsverzeichnis bei einer Teilleistung eine Bezeichnung für ein bestimmtes Fabrikat mit dem Zusatz „oder gleichwertiger Art” verwendet worden, und fehlt die für das Angebot geforderte Bieterangabe, gilt das im Leistungsverzeichnis genannte Fabrikat als vereinbart.”
Die Antragstellerin beschränkte sich bei dem von ihr abgegebenen Angebot in zahlreichen Positionen auf die Angabe eines Herstellers und versah diese jeweils mit dem Zusatz „oder gleichwertig”. Die Vergabestelle beanstandete dies zunächst nicht, favorisierte allerdings anfangs Angebote anderer Bieter, die jedoch in mehreren aufeinanderfolgenden Vergabenachprüfungsverfahren scheiterten (vgl. zuletzt den OLG Dresden, Beschl. v. 12.6.2002 – WVerg 6/02).
Dementsprechend rückte die Antragstellerin, in der Wertungsreihenfolge der Vergabestelle rechnerisch ursprünglich an vierter Stelle liegend, in der Bieterreihenfolge ebenso vor wie die (zunächst drittplatzierte) Antragstellerin des Parallelverfahrens WVerg 15/2. Die Vergabestelle kam indes nach neuerlicher Überprüfung nunmehr zu dem Schluss, auch diese Angebote seien wegen des Fehlens geforderter Erklärungen nach Maßgabe von § 25 Nr. 1 Abs. 1b VOB/A auszuschließen. Hierauf gestützt hob die Vergabestelle die Ausschreibung unter Berufung auf § 26 Nr. 1a VOB/A auf; nachträglich hat sie die Aufhebung auch damit begründet, dass auf der Basis der verbliebenen Angebote eine Einhaltung der genehmigten Gesamtbaukosten für das Vorhaben nicht mehr zu gewährleisten sei und damit die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen einer Auftragserteilung nicht mehr erfüllt seien.
2. Das Nachprüfungsbegehren der Antragstellerin hatte bei der Vergabekammer zunächst Erfolg; diese hat sich in Ansehung der Rspr. des Europäischen Gerichtshofes (VergR 2002, 361) zur Nachprüfung...