Leitsatz (amtlich)
Kartellzivilrechtlich ist eine Überprüfung der von der Beklagten festgelegten Preisbildung für die Nutzung von Strecken in den streitgegenständlichen, von der Beklagten als "Regionalnetzt" bezeichneten Bereichen des Eisenbahnnetzes am Maßstab der Art. 101, 102 AEUV eröffnet. Die auf einzelnen Strecken als Entgeltaufschlag erhobenen Regionalfaktoren verstoßen gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und der Diskriminierung, denn sie zielen darauf, den Wettbewerb zu verfälschen. Sie sind zudem geeignet, den zwischenstaatlichen Handel spürbar zu beeinträchtigen. Eine etwa erfolgte Abwälzung eines kartellgedingten Vermögensnachteils auf Dritte (sog. "passing-on-Einwand"), hier eine unterstellte Abwälzung der Infrastrukturkosten und damit der Regionalfaktoren auf den Aufgabenträger der Daseinsvorsorge, der diese aus dem Mineralölsteueraufkommen finanziert, schließt nicht bereits die Entstehung eines Schadens aus, noch mindert es ihn.
Verfahrensgang
LG Leipzig (Aktenzeichen 01 HK O 3444/13) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Leipzig vom 14.08.2015 (01 HK O 3444/13) wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil sowie das Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Leipzig vom 14.08.2015 (01 HK O 3444/13) sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Zahlung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten die Rückzahlung für den Zeitraum 01.12.2009 bis 31.12.2010 gezahlter Trassennutzungsentgelte zuzüglich Zinsen insoweit geltend, als diese auf sog. "Regionalfaktoren" beruhen.
Die beklagte YYY AG, eine Tochtergesellschaft der yXy AG, ist ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen i.S.d. § 2 Abs. 1 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Sie unterhält rund 87,5 % des Schienennetzes in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin ist ein nicht bundeseigenes Eisenbahnverkehrsunternehmen i.S.d. § 2 Abs. 3 AEG, welches Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) erbringt und dafür im streitigen Zeitraum im Bereich der Freistaaten Thüringen, Sachsen acht Strecken und - im Zeitraum 01.12.2009 bis 31.12.2009 - eine weitere, im Freistaat Bayern gelegene Strecke mit planmäßigem Zugbetrieb nutzte.
Die Beklagte war im streitgegenständlichen Zeitraum nach den Vorschriften des AEG und der Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung (EIBV) verpflichtet, privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zu gewähren. Zu diesem Zweck schloss sie mit zugangsberechtigten Unternehmen jeweils Rahmenverträge über die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur ab, die im Hinblick auf die dafür zu entrichtenden Entgelte auf die jeweils gültigen Trassen- und Anlagenpreislisten Bezug nehmen. Auf Grundlage dieser Rahmenverträge meldeten die Eisenbahnverkehrsunternehmen bestimmte Trassen zur Nutzung an, für die die Beklagte sodann Angebote zur Nutzung unter Ausweis eines Trassenpreises unterbreitete.
Die Parteien schlossen am 04./23.11.1998 unter Einbeziehung der "Allgemeinen Bedingungen über die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur der yXy AG (ABN)" in der jeweils gültigen Fassung einen Rahmennutzungsvertrag (Anlage A3, Bl. 62 bis 68 dA). Nach § 5 dieses Vertrags war zwischen ihnen vereinbart, dass sich das von der Klägerin zu entrichtende Entgelt aus den jeweils gültigen Trassen- und Anlagepreislisten ergab. Mit Nachtragsvereinbarung vom 21.05./22.10.2001 (Anlage A5, Bl. 104 bis 108 dA) gewährten sie der Beklagten das Recht, nach Inkrafttreten einer neuen Trassen- und Anlagenpreisliste Preisanpassungen vorzunehmen. Mit weiterer Nachtragsvereinbarung vom 06./30.06.2008 (Anlage A4, Bl. 103 dA) verlängerten sie die Vertragslaufzeit des Rahmennutzungsvertrags bis zum 28.02.2013.
Mit Wirkung zum 01.01.2003 führte die Beklagte ungeachtet eines Widerspruchs der Klägerin ausschließlich für den SPNV und ausschließlich auf örtlich differenzierten regionalen Strecken, die vorwiegend für den SPNV genutzt wurden, sog. "Regionalfaktoren" als einen zusätzlichen Berechnungsfaktor in ihr Trassenpreissystem ein (vgl. Anlagen A6 und A7, Bl. 109 bis 112 dA). Diese Regionalfaktoren fanden in unterschiedlichem Umfang für Trassen in 40 sog. "Regionalnetzen" Anwendung, die die Beklagte als Strecken des SPNV-Grundangebotes vorzuhalten hatte, die aber nach ihrer Auffassung keine tragfähige Kosten-Erlös-Struktur aufwiesen. Danach berechnete sich der Trassenpreis nach folgender Formel:
Grundpreis × Produktfaktor × Sonderfaktor (Dampflokfahrt, Lademaßüberschreitung)
+ Sonderfaktoren (Gewichtsklasse, Radsatzlast, Neigetechnik) × Regionalfaktor
Von den Regionalfaktoren waren ca. 20 % der Streckenkilometer des SPNV-Gesamtangebotes betroffe...