Leitsatz (amtlich)
1. Wird bei der Entfernung eines pharyngealen Tumors im Halsdreieck der Nervus accessorius geschädigt, rechtfertigt dies keinen Anscheinsbeweis für einen Behandlungsfehler.
2. Der Verstoß gegen eine Pflicht, den Patienten wegen einer postoperativen Funktionsstörung auf die Möglichkeit einer Revisionsoperation hinzuweisen, steht als Mangel der therapeutischen Sicherungsaufklärung zur Beweislast des Patienten.
3. Ärztliche Behandlungsunterlagen sind nicht Bestandteil der Gerichtsakte. In Arzthaftungsstreitigkeiten wird daher das rechtliche Gehör der Partei dadurch gewährleistet, dass ihr in alle Behandlungsunterlagen, auch durch Übersendung an ihren Prozessbevollmächtigten, Einsicht zu gewähren ist. Demgegenüber besteht keine Verpflichtung der Behandlungsseite, diese Unterlagen in toto als Anlage zu ihrem schriftsätzlichen Vortrag in das Verfahren einzubeziehen.
Verfahrensgang
LG Leipzig (Aktenzeichen 07 O 1262/20) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des Landgerichts Leipzig vom 11.04.2022 - 7 O 1262/20 - wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist für die Beklagte hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 36.929,04 EUR festgesetzt (Schmerzensgeld: 20.000,00 EUR; materielle Schäden: 11.929,04 EUR; Feststellung: 5.000,00 EUR).
Gründe
I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Zahlung von Schmerzensgeld, Ersatz materieller Schäden und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden wegen einer behaupteten Fehlbehandlung im Hause der Beklagten im Zusammenhang mit der Entfernung eines Parapharyngealtumors und dessen Nachbehandlung.
Am 20.10.2017 wurde im Hause der Beklagten ein Tumor im Halsdreieck der Klägerin entfernt. Die Indikation ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Klägerin behauptet, bei der Operation sei der Nervus accessorius intraoperativ durchtrennt, zumindest aber dauerhaft geschädigt worden. Dies beruhe darauf, dass der Nerv intraoperativ nicht dargestellt worden sei; der Operationsbericht sei unzureichend, so dass die Beklagte beweisfällig geblieben sei. Die unterlassene Nervdarstellung stelle einen groben Behandlungsfehler dar. Auch die postoperative Versorgung sei behandlungsfehlerhaft erfolgt, weil hierbei die Nervverletzung nicht erkannt, und infolgedessen nicht adäquat auf die Beschwerden der Klägerin reagiert worden sei. Deshalb leide sie nun unter erheblichen Dauerfolgen in Form von Bewegungseinschränkungen und Schmerzen. Das Landgericht hat mit Urteil vom 19.04.2022, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, nach Einholung eines fachärztlichen Hals-Nasen- und Ohren- Gutachtens und einer ergänzenden neurophysiologischen Stellungnahme die Klage abgewiesen.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klageziel mit der Einschränkung weiter, dass sie den in Ziff. 2. ihrer Berufungsanträge geltend gemachten Feststellungsantrag auf unvorhersehbare immaterielle Schäden beschränkt.
Sie rügt eine unzureichende Beweiserhebung und -würdigung durch das Landgericht und meint, das Landgericht habe die Beweislastverteilung rechtlich fehlerhaft eingeschätzt. Da dem Personal der Beklagten "ersichtlich" grobe Behandlungsfehler unterlaufen seien, habe die Beweislast von vornherein bei der Beklagten gelegen. Das Landgericht habe verkannt, dass aufgrund der lückenhaften Dokumentation davon auszugehen sei, dass das Personal der Beklagten entgegen dem ärztlichen Standard während der Operation gerade nicht den Nervus accessorius chirurgisch dargestellt habe. Dies sei allerdings erforderlich gewesen. Die lückenhafte Operationsdokumentation spreche ebenfalls für eine Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten. Das Landgericht habe weiter nicht berücksichtigt, dass nicht nur eine Nervdurchtrennung fehlerhaft gewesen wäre, sondern auch eine alternativ denkbare Druckschädigung des Nervs. Schließlich habe das Landgericht sich nicht mit den behaupteten Fehlern während der Nachsorge befasst.
Die Klägerin beantragt,
1. Das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 11.04.2022, Az.: 07 O 1262/20 wird abgeändert und die Beklagte wird verurteilt,
1.1 an die Klägerin ein Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das aber mindestens 20.000,00 Euro betragen sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 14.08.2019 zu zahlen.
1.2 an die Klägerin einen Schadensersatz in Höhe von 11.929,04 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Es wird unter Abänderung des Urteils festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle materiellen und nicht vorhersehbaren immate...