Leitsatz (amtlich)
1. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22. September 2009 (EGMR Nr. 13566/06, Pietiläinen gegen Finnland) steht allein die Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers der Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach die Berufung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen ist, nicht entgegen.
2. Ob die in § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vorausgesetzte Vertretungsmöglichkeit, die sich auf Ausnahmefälle (§§ 234, 411 Abs. 2 StPO) beschränkt, in zulässiger Weise durch konventionsfreundliche Auslegung erweitert werden kann, bedarf mangels schriftlicher Vertretungsvollmacht des Verteidigers keiner Entscheidung.
Normenkette
StPO § 329 Abs. 1 S. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1, Art. 3
Tenor
Die Revision wird als unbegründet verworfen
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Rechtsmittels.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Oberhausen hat den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Berufung, die der Angeklagte auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat, hat das Landgericht durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen, nachdem der Angeklagte im Hauptverhandlungstermin ohne Entschuldigung ausgeblieben war.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Sachrüge erhebt und die Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren und Gewährung rechtlichen Gehörs rügt.
II.
Das zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.
1.
Die erhobene Sachrüge führt nur zu der eingeschränkten Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen (vgl. OLG Köln NJW 2001, 1223 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 329 Rdn. 49). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
2.
Die Verfahrensrügen greifen nicht durch. Das Landgericht hat weder gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen noch den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör verletzt, indem es die Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache erworfen hat, obwohl ein verteidigungsbereiter Pflichtverteidiger anwesend war.
a)
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit Beschluss vom 27. Dezember 2006 (StraFo 2007, 190) entschieden, dass die Regelung und Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gegen das Recht des Angeklagten auf eine effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt und dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) genügt. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt:
"Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Anwesenheit des Angeklagten stellen diesen als selbstverantwortlichen Menschen mit eigenen Verteidigungsrechten in den Mittelpunkt der Hauptverhandlung. Sie sind auf dem Rechtsgedanken aufgebaut, dass das Gericht seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Zumessung der Rechtsfolgen nur dann genügt, wenn es den Angeklagten vor sich sieht und ihn mit seiner Verteidigung hört. Damit wird Art. 103 Abs. 1 GG und dem darin enthaltenen Recht auf Selbstbehauptung in der bestmöglichen Form genügt. Auch die Menschenrechtskonventionen erfassen mit dem Verteidigungsrecht das Recht auf Anwesenheit: Art. 14 Abs. 3 Buchstabe d IPBPR sieht es ausdrücklich vor; für die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte folgt es aus dem Recht, sich selbst zu verteidigen (vgl. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. April 1997, § 230 Rn. 1). Die Anwesenheit des Angeklagten als ein den Strafprozess beherrschender Grundsatz dient auch dazu, dem Angeklagten die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung zu sichern (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 1952 - 3 StR 83/52 -, BGHSt 3, 187, 190 f.).
Die Anwesenheitspflicht soll aber auch der Wahrheitsfindung dienen, wie die Vorbehalte in §§ 231 Abs. 2, 231 a Abs. 1 StPO bestätigen. Schon die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks vom Angeklagten - seines Auftretens und seiner Einlassung - kann der Urteilsfindung des Gerichts dienlich sein, selbst in Fällen, in denen der Angeklagte schweigt und jede aktive Mitwirkung verweigert (vgl. BGH a.a.O.). Aus der Zielsetzung des § 230 Abs. 1 StPO folgt, dass "anwesend" nur ein Angeklagter ist, der das Geschehen der Hauptverhandlung selbst in allen Einzelheiten sicher wahrnehmen und auf den Gang der Hauptverhandlung durch Fragen, Anträge und Erklärungen einwirken kann (vgl. Gollwitzer a.a.O.). Zwar kennt die Strafprozessordnung Ausnahmen von dem Verbot, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln (vgl. §§ 231 Abs. 2, 231 a, 231 b, 231 c, 232, 233, 247, 329 Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2). Sie sind aber nur dort und nur insoweit am Platze, als sie das Gesetz ausdrücklich zulässt. Eine echte Hauptverhandlung gegen Abwesende im Sinne von § 276 StPO findet nicht statt.
Das Anwesenheitsrecht und die ihm korrespondierende Anwesenheitspflicht sind auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit de...