Leitsatz (amtlich)
1. Die unter Drittbeteiligung zustande gekommene Erteilung des Verfügungspatents rechtfertigt auch in einem Generikafall keine Unterlassungsverfügung, wenn ihr die Widerrufsentscheidung der übergeordneten Einspruchsabteilung zum inhaltsgleichen Stammpatent entgegensteht.
2. Offenbart eine vorbekannte Dosisfindungsstudie (hier: zur Behandlung von Multipler Sklerose) neben zwei unwirksamen Wirkstoffdosen (hier: 120 mg/Tag, 360 mg/Tag) eine therapeutisch wirksame Dosis (hier: 720 mg/Tag), die mit vergleichsweise geringen Nebenwirkungen verbunden ist, so hat der Fachmann selbst dann Anlass, eine in der Studie noch nicht untersuchte geringere Wirkstoffdosis (480 mg/Tag) zu testen, wenn die Studie keine Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass zwischen der Wirkstoffmenge und den Nebenwirkungen ein Zusammenhang besteht, der erwarten lässt, dass mit einer geringeren Wirkstoffmenge ein geringeres Maß an Nebenwirkungen verbunden ist.
3. Der Anlass ergibt sich daraus, dass die Studie mehrere mögliche Dosierungsschritte (hier: 480 mg/Tag und 600 mg/Tag) zwischen der unwirksamen Dosierung (hier: 360 mg/Tag) und der nachgewiesen wirksamen Dosierung (hier: 720 mg/Tag) übersprungen hat, und es einen wirklichen Glücksgriff darstellen würde, wenn mit der - unter Auslassung mehrerer möglicher geringerer Dosen - getesteten Wirkstoffdosis (hier: 720 mg/Tag) zufälligerweise die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre.
4. Aus fachmännischer Sicht war mit der Studie die Wirksamkeitsgrenze noch nicht ermittelt. Ihr nachzugehen und die Wirksamkeitsgrenze um ihrer selbst willen aufzuklären, mag unter wirtschaftlichen Erwägungen unvernünftig gewesen sein. Erfinderisch wird das Vorhaben dadurch aber noch nicht, weil nach dem Ergebnis der Studie nicht nur die verbliebene Wissenslücke klar zutage lag, sondern ebenso offensichtlich war, was zu tun ist, um sie zu schließen.
Verfahrensgang
LG Düsseldorf (Aktenzeichen 4b O 50/22) |
Tenor
I. Die Berufung gegen das am 22.09.2022 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf (Az.: 4b O 50/22) wird zurückgewiesen.
II. Die Verfügungsklägerin hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Verfügungsklägerin macht als eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des europäischen Patents X XXX XXX (nachfolgend: Verfügungspatent) wegen dessen Verletzung durch das von der Verfügungsbeklagten, einem Generikaunternehmen, seit dem 23.05.2022 vertriebene Arzneimittel "D" (angegriffene Ausführungsform) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Unterlassungsanspruch geltend.
Das Verfügungspatent ist aus einer Teilanmeldung zu der dem europäischen Patent X XXX XXX (nachfolgend: Stammpatent) zugrunde liegenden Anmeldung hervorgegangen und nimmt deren Anmeldetag vom 07.02.2008 sowie die Priorität der US XXXXXX vom 08.02.2007 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde - nachdem im Prüfungsverfahren Einwendungen Dritter berücksichtigt wurden - am 20.07.2022 veröffentlicht. Das Verfügungspatent ist in Kraft. Über den unter anderem von der Verfügungsbeklagten erhobenen Einspruch gegen das Verfügungspatent ist noch nicht entschieden.
Die Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents lauten in deutscher Übersetzung wie folgt:
1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:
(a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
(b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger,
wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
5. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylesteroder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
Das Stammpatent wurde im Rahmen eines von zehn Einsprechenden - darunter die Verfügungsbeklagte - geführten Einspruchsverfahrens mit Entscheidung vom 13.06.2016 von der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts widerrufen, weil es auch mit Blick auf die zuletzt gestellten Hilfsanträge an einer erfinderischen Tätigkeit fehle (schriftliche Begründung vorgelegt als Anlage rop 14, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 14a; nachfolgend zitiert als "Einspruchsentscheidung" nach Anlage rop 14a). Die dagegen gerichtete Beschwerde wies die Technische Beschwerdekammer mit Entscheidung vom 20.01.2022 zurück (schriftliche Begründung vorgelegt als Anlage rop 10, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 10a; nachfolgend zitiert als "Entscheidung TBK" nach Anlage rop 10a), weil der Gegenstand der Hilfsanträge über den Inhalt der Anmeldung in d...