Leitsatz (amtlich)

Die Verfahrensfähigkeit Jugendlicher ab Vollendung des 14. Lebensjahres in ihre Person betreffenden Verfahren erfordert gemäß dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Ziffer 3 FamFG die Geltendmachung konkret nach bürgerlichem Recht eingeräumter Widerspruchs- und Mitwirkungsrechte.

Rechtspositionen, die ihre Grundlage im Verfassungs-, Verwaltungs- oder Verfahrensrecht haben, genügen hierfür nicht. In Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 BGB ist die Verfahrensfähigkeit zu verneinen.

 

Normenkette

BGB § 1666; FamFG § 7 Abs. 2 Nr. 1, § 9 Abs. 1 Ziff. 3, §§ 60, 76, 78

 

Verfahrensgang

AG Wetzlar (Aktenzeichen 621 F 1070/20)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 12.05.2021; Aktenzeichen XII ZB 34/21)

 

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Die zugelassene Rechtsbeschwerde wurde eingelegt (BGH XII ZA 1/21).

 

Gründe

I. Mit der am 20.11.2020 beim Amtsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde wendet die Beschwerdeführerin [geb. 2004] sich gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt S., Wetzlar, zur Vertretung ihrer Interessen sowie gegen die Bestellung eines Verfahrensbeistands. Die Beschwerde wird insoweit unter gesondertem Aktenzeichen geführt.

Die aus Sankt Augustin (NRW) stammende Beschwerdeführerin war von März 2020 bis zum 3. November 2020 auf Veranlassung des zuständigen Jugendamtes der Stadt Sankt Augustin und mit Zustimmung der allein sorgeberechtigten Kindesmutter in einer Jugendwohngruppe in Wetzlar untergebracht. Diese Maßnahme wurde durch das Jugendamt am 03.11.2020 beendet und die Beschwerdeführerin wurde zunächst in Obhut genommen.

Derzeit hält die Beschwerdeführerin sich bei ihrem in Wetzlar lebenden Freund D., geb. 1998, auf. Gegen diesen liefen bzw. laufen seit 2015 diverse Ermittlungsverfahren u.a. wegen Körperverletzung und Verstößen nach dem Betäubungsmittelgesetz. Ein Verfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der hiesigen Beschwerdeführerin wurde durch die Staatsanwaltschaft Limburg - Zweigstelle Wetzlar - am 4.11.2020 eingestellt.

Mit als "(Eil-)Antrag auf Regelung der elterlichen Sorge" überschriebenem Schriftsatz vom 05.11.2020 zeigte Rechtsanwalt S. die anwaltliche Vertretung der Beschwerdeführerin an und beantragte folgende Feststellung: "In Bezug auf die elterliche Sorge besteht kein Grund zu weiterer Veranlassung, so dass das Jugendamt alle weiteren Maßnahmen (Inobhutnahme etc.) zu unterlassen hat." Weiter beantragte er, der Beschwerdeführerin Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen und ihn als Rechtsanwalt beizuordnen.

Dem Antrag war eine durch die Beschwerdeführerin unterzeichnete Vollmacht für die anwaltliche Vertretung mit dem Verfahrensgegenstand "Widerspruch gegen Inobhutnahme vom 05.11.2020" beigefügt.

Nach Übersendung dieses Schriftsatzes zur Stellungnahme an die Beteiligten trat das Jugendamt der Stadt Sankt Augustin mit Bericht vom 10.11.2020 dem Antrag entgegen und verwies auf die Notwendigkeit weiterer Jugendhilfemaßnahmen wegen der Gefährdung der Jugendlichen unter dem Einfluss des Freundes.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Amtsgericht den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung eines Verfahrensbevollmächtigten zurück.

Zur Begründung der Entscheidung führt das Gericht aus, die Beauftragung eines Rechtsanwalts durch Minderjährige setze voraus, dass sie im konkreten Fall verfahrensfähig sind. Im vorliegenden Verfahren nach § 1666 BGB seien die hierfür erforderlichen Anforderungen an die Verfahrensfähigkeit nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG nicht erfüllt. Wegen der weiteren Begründung wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

Mit weiterem Beschluss vom 16.11.2020 bestellte das Amtsgericht Frau Rechtsanwältin ... als Verfahrensbeistand.

Mit der am 20.11.2020 beim Amtsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Versagung der Verfahrenskostenhilfe und gegen die Bestellung eines Verfahrensbeistands.

Zur Begründung der Beschwerde führt Rechtsanwalt S. aus, die Jugendliche sei verfahrensfähig. Sie habe einen eigenen umfassenden Antrag gestellt. Es sei weder verständlich noch rechtlich zutreffend, dass der Jugendlichen in dem vorliegenden Verfahren von Anfang an die Verfahrensfähigkeit abgesprochen werde. Hierzu verweist er auf seine Beiordnung in weiteren familiengerichtlichen Verfahren etwa durch das Amtsgericht Siegburg (zu AZ 314 F 9/20 EAUB) sowie das Amtsgericht - Familiengericht - Wetzlar (zu AZ 621 F 640/20 UG).

Die Bestellung eines Verfahrensbeistands sei rechtsfehlerhaft, weil die Jugendliche bereits anwaltlich vertreten sei.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 25.11.2020 nicht abgeholfen und die Akten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Mit Beschluss vom heutigen Tage ist die Sache durch die Einzelrichterin dem Senat zur Entscheidung übertragen worden.

II. Die gegen die Versagung von Verfahrenskostenhilfe gerichtete Beschwerde ist gemäß § 76 Abs. 2 Fam...

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