Entscheidungsstichwort (Thema)

Gemeinschaftsgeschmacksmuster: Aussetzung des Verletzungsverfahrens nach Art. 91 Abs. 1 GGB bei früherem Nichtigkeitsantrag

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem früheren Nichtigkeitsantrag muss das Verletzungsgericht das Klageverfahren gemäß Art. 91 Abs. 1 GGV aussetzen, wenn keine besonderen Gründe für seine Fortsetzung bestehen. Besondere Gründe für die Fortsetzung liegen u.a. dann vor, wenn der Nichtigkeitsantrag mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird. Dies muss das Verletzungsgericht prognostizieren. Hierbei findet keine allgemeine und ergebnisoffene Abwägung der Parteiinteressen statt.

2. Art. 91 Abs. 1 GGV ist lex specialis gegenüber einer Aussetzung nach Art. 88 Abs. 3 GGV i.V.m. § 148 ZPO. Erst wenn das Verletzungsgericht den Anwendungsbereich von Art. 91 Abs. 1 GGV im konkreten Fall verneint hat, kommt eine Aussetzung nach § 148 ZPO in Betracht.

3. Es ist weder eine Aussetzung nach Art. 91 Abs. 1 GGV noch eine solche nach § 148 ZPO möglich, wenn das Verletzungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass keine Verletzung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters vorliegt. Diese Entscheidung muss das Verletzungsgericht grundsätzlich vor der Aussetzung treffen.

 

Normenkette

GGV Art. 88 Abs. 3, Art. 91; ZPO §§ 148, 252

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 20.08.2020; Aktenzeichen 2-03 O 204/19)

 

Tenor

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20.8.2020 wird aufgehoben.

 

Gründe

I. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Unterlassungs- und Folgeansprüche wegen der angeblichen Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters geltend.

Die Klägerin, eine Gesellschaft nach finnischem Recht, ist Inhaberin des am 23.10.2003 beim EUIPO angemeldeten Gemeinschaftsgeschmacksmusters mit der Registriernummer ... für eine Palettenkufe aus Karton (vgl. Anlage K2 = Bl. 29 ff. d.A.). Unter Verwendung des Klagemusters vertriebt die Klägerin Paletten aus Karton unter der Marke "PallRun".

Die Beklagte zu 1) produziert und vertreibt ebenfalls Paletten, wie sie im Klageantrag zu I. (Bl. 2 ff. d.A.) abgebildet sind. Die Beklagten zu 2) und 3) sind die Geschäftsführer der Beklagten zu 1). Diese erwarb im Jahr 2017 Teile des Vermögens einer Tochtergesellschaft der Klägerin. Unter den mitveräußerten Gegenständen befand sich auch eine "PallRun-Maschine zur Palettenherstellung".

Die Klägerin, die in den von der Beklagten zu 1) vertriebenen Paletten eine Verletzung ihres Geschmacksmusters sieht, mahnte die Beklagten erstmals mit Anwaltsschreiben vom 21.3.2018 (Anlage K10 = Bl. 100 ff. d.A.) ab und verlangte vergeblich Unterlassung.

Mit der vorliegenden, am 16.5.2019 eingereichten Klage verfolgt sie ihr Unterlassungsbegehren nebst Folgeansprüchen (Auskunft, Schadensersatzfeststellung, Rückruf und Vernichtung) weiter.

Bereits am 18.1.2019 (Registereintrag 29.1.2019) reichte die Beklagte zu 1) beim EUIPO einen Antrag auf Nichtigerklärung des Klagemusters ein, den sie am 3.6.2019 begründete.

Nach einer mündlichen Verhandlung am 6.2.2020 (Bl. 587 d.A.) hat das Landgericht das Verfahren mit dem angefochtenen Beschluss (Bl. 802 ff. d.A.) bis zur Entscheidung über den Antrag auf Nichtigerklärung des Geschmacksmusters ausgesetzt. Gleichzeitig hat es die für diesen Fall von der Klägerin beantragten einstweiligen Anordnungen zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Klägerin, mit der sie die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses und hilfsweise die Anordnung einstweiliger Sicherungsmaßnahmen weiterverfolgt.

II. Die nach §§ 567 Abs. 1, 252 ZPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss war aufzuheben, da die vom Landgericht ausgeführten Gründe eine Aussetzung des Klageverfahrens bis zur Entscheidung des Nichtigkeitsverfahrens nicht tragen. Die von dem Landgericht getroffene Ermessensentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Dies gilt auch für die Hilfsanträge, die das Landgericht ebenfalls zurückgewiesen hat.

1. Das Beschwerdegericht hat im Rahmen einer Beschwerde nach § 252 ZPO zunächst zu prüfen, ob ein Aussetzungsgrund gegeben ist. Hierbei ist es nicht an die Rechtsauffassung des Erstgerichts gebunden. Liegt ein Aussetzungsgrund vor, hat das Beschwerdegericht weiter zu prüfen, ob dem Erstgericht Ermessensfehler unterlaufen sind. Dabei darf es allerdings nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Erstgerichtes setzen (vgl. Zöller/Greger ZPO, 33. Auflage, § 252 Rn. 3; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 10.12.2020 - 6 W 126/20 m.w.N. = GRUR-RR 2021, 160 = WRP 2021, 668). Das Beschwerdegericht darf also nicht eine - auf fehlerhaften Ermessenserwägungen der Vorinstanz beruhende - Aussetzung mit eigenen Ermessenserwägungen bestätigen. Für den Fall, dass eine ermessensfehlerhafte Aussetzung vorliegt, bleibt nur die Aufhebung der Entscheidung.

2. Die Frage, ob das Klageverfahren wegen des auf Antrag der Beklagtenseite beim EUIPO anhängigen Nichtigkeitsverfahrens auszusetzen ist, regelt...

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