Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung: Keine Addition der in der Gliedertaxe vorgesehenen einzelnen Teilglieder bei Auswirkung der Verletzung auf mehrere Teile eines Körpergliedes
Leitsatz (amtlich)
1. Wirkt sich die Verletzung eines Körperglieds auf verschiedene Teile des Glieds aus, die in der Gliedertaxe separat bewertet werden (hier eine Verletzung des Arms auf Schulter, Ellenbogen, Handgelenk und Finger), so ist auf den rumpfnächsten Sitz der unfallbedingten Schädigung abzustellen (hier: "Arm im Schultergelenk").
2. Für den danach betroffenen Gliederteil ist eine einheitliche Bewertung des Ausmaßes der Funktionsbeeinträchtigung vorzunehmen. Eine Addition der in der Gliedertaxe vorgesehenen einzelnen Teilglieder (Finger, Hand, Arm) findet nicht statt. Eine solche ist auch nach § 7 I (2) d) AUB 88 nicht möglich.
3. Diese Klausel ist weder unklar noch mehrdeutig i.S.d. § 305c Abs. 2 BGB.
4. Bei der Gesamtbewertung dürfen aber die sich aus der Beeinträchtigung von Teilgliedern ergebenden Einzelwerte nicht unterschritten werden, sie stellen insoweit einen Mindestwert der Beeinträchtigung des Gesamtglieds dar. Dahin gestellt bleibt, ob dies auch für die Fälle gilt, in denen ein Körperglied durch mehrere Verletzungen in verschiedenen Teilen beeinträchtigt ist (Polytrauma).
Normenkette
VVG § 178; AUB 1988 § 7 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d; BGB § 305c Abs. 2
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 27.05.2010) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 27.5.2010 verkündete Urteil des LG Frankfurt/M. abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 58.798,93 EUR nebst Zinsen hieraus i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8.7.2006 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen haben der Kläger 60 % und die Beklagte 40 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner bleibt es nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Der Kläger verlangt von der Beklagten Leistungen aus einer Unfallversicherung, die er im Jahr 2003 unter Zugrundelegung der AUB 99 und der UBB 201 abgeschlossen hatte. Am ... 3.2003 kugelte sich der Kläger bei einem Sturz von der Leiter den rechten Arm aus, was zu einer Läsion des Plexus brachialis, d.h. einer Schädigung des den Arm und die Hand versorgenden Nervengeflechts führte. Die Verletzungen des Klägers wurden in der Folgezeit von einer Vielzahl von Ärzten begutachtet.
Die Beklagte ging davon aus, dass die Funktionsfähigkeit des Arms nach Ablauf von drei Jahren zur Hälfte eingebüßt sei und zahlte dementsprechend 56.242,45 EUR an den Kläger.
Der Kläger behauptet eine völlige Funktionsunfähigkeit des Arms und begehrt mit der vorliegenden Klage den Differenzbetrag.
Das LG hat Beweis erhoben durch Beauftragung des Sachverständigen Dr. SV1. Dieser hat in seinem schriftlichen Gutachten eine Funktionsbeeinträchtigung des Arms von 11/20 angenommen und dies anlässlich der Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung dahin konkretisiert, die Beeinträchtigung im Bereich der Hand sei mit 80 %, im Bereich des Unterarms mit 10 % und im Bereich der Hand mit 80 % zu gewichten. In dieser mündlichen Verhandlung hat das LG sich die Verletzungsfolgen vom Kläger unter Einschaltung des Sachverständigen detailliert darstellen lassen.
Mit Urteil vom 27.5.2010, auf dessen tatsächliche Feststellungen im Übrigen Bezug genommen wird, hat das LG der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Es ist dabei tatsächlich den Feststellungen des Sachverständigen in vollem Umfang gefolgt und hat durch eine Addition der Beeinträchtigung der Schulter (40 % des vereinbarten Taxwerts 70 % = 28 % der vereinbarten Versicherungsleistung) und der Beeinträchtigung der Hand (80 % des vereinbarten Taxwerts 55 % = 44 % der vereinbarten Versicherungsleistung) eine Gesamtversicherungsleistung von mehr als 70 % angenommen.
Gegen dieses ihr am 9.6.2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17.6.2010 Berufung eingelegt und diese am 5.8.2010 begründet.
Die Beklagte hält das vom LG eingeholte Sachverständigengutachten wegen inhaltlicher Mängel und Bedenken an der Qualifikation des Sachverständigen für unverwertbar und hält es für erforderlich, ein neurologisches Gutachten einzuholen. Sie ist der Ansicht, eine Addition der Einzelwerte sei nicht möglich, die Funktionslogik der Gliedertaxe schließe bei Verlust eines funktionell höher bewerteten, dem Rumpf näheren Glieds den Verlust eines geringer bewerteten und dem Rumpf ferneren Glieds ein.
Die Beklagte erstrebt eine Abweisung der Klage, der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Kläger ist der Ansicht, der Umfang der Funktionsbeeintr...