Entscheidungsstichwort (Thema)

Amtshaftung wegen Verletzung der Räum- und Streupflicht in Hessen: Sturz eines Fußgängers auf einem vereisten Fußgängerweg. Schmerzensgeldanspruch bei einem Oberschenkelhalsbruch. Mitverschulden des Fußgängers

 

Orientierungssatz

1. Stürzt ein Fußgänger auf einem vereisten Fußgängerweg und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu, der eine Operation erforderlich macht und zu einer einjährigen verletzungsbedingten Beeinträchtigung führt, so steht ihm bei einem Mitverschuldensanteil von 50 % ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 4.000,– Euro zu, wenn der Sturz auf eine Verletzung der Räum- und Streupflicht der Stadt zurückzuführen ist.

2. Hat der Fußgänger die in Anbetracht der bestehenden Gefahrenlage gebotene Vorsicht außer Acht gelassen, die angesichts der ihm bekannten Witterungsverhältnisse und der erkennbar unterbliebenen Räumung und Streuung geboten war, so trifft ihn ein Mitverschulden von 50 %.

 

Normenkette

StrG HE § 10 Abs. 3 S. 1; StrG HE § 10 Abs. 4; BGB §§ 253, 254 Abs. 1, § 823 Abs. 1, § 839; GG Art. 34

 

Verfahrensgang

LG Limburg a.d. Lahn (Urteil vom 27.08.2012; Aktenzeichen 2 O 109/12)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 27.08.2012 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Limburg teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 29.11.2011 sowie außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 402,82 EUR zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu 71%, die Beklagte zu 29 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

A.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

 

Entscheidungsgründe

B.

I. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin hat in der Sache teilweise Erfolg; der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch ist teilweise begründet (dazu unter 1.). Unbegründet ist die Berufung hingegen, soweit die Klägerin einen Anspruch auf Ersatz materiellen Schadens weiterverfolgt (dazu unter 2.)

1. Der Klägerin steht gegen die beklagte Stadt aus übergegangenem Recht ein Anspruch auf immateriellen Schadensersatz in Höhe von 4.000 EUR aus Amtshaftung wegen Verletzung der Räum- und Streupflicht im Zusammenhang mit dem Unfall, den der verstorbene Ehemann der Klägerin als Fußgänger am ….12.2010 gegen 12.00 Uhr in O1-… erlitten hat, zu (Art. 34 GG i. V. mit §§ 839, 253, 1922 BGB).

a) Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Sie hat durch Vorlage eines Erbscheins im Berufungsverfahren nachgewiesen, Alleinerbin ihres verstorbenen Ehemanns zu sein. Auch die Beklagte hat nach Vorlage des Erbscheins keine Bedenken mehr gegen die Aktivlegitimation erhoben.

b) Der Sturz des Ehemanns der Klägerin ist auf eine Verletzung der Räum- und Streupflicht der Beklagten zurückzuführen.

aa) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist für die Unfallstelle eine Räum- und Streupflicht der Beklagten nicht deshalb grundsätzlich zu verneinen, weil es sich bei der „A-Straße” bzw. der B-Straße um Straßen von nur untergeordneter Verkehrsbedeutung handelt. Das Landgericht hat verkannt, dass hinsichtlich der Anforderungen an die Winterdienstpflicht zwischen Fahrbahnen und Gehwegen zu unterscheiden ist (vgl. BGH, NJW 2003, 3622 [juris Rn. 5]; NZV 1995, 144 [juris Rn. 4]; NJW 1966, 202). Die durch das Landgericht zugrunde gelegten, von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, wonach lediglich an besonders verkehrswichtigen und gefährlichen Stellen zu räumen und zu streuen ist, beziehen sich allein auf den Fahrzeugverkehr.

(1) § 10 Abs. 4 HStrG verpflichtet die Gemeinden, die öffentlichen Straßen innerhalb der geschlossenen Ortslage nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit von Schnee zu räumen sowie bei Schnee- und Eisglätte zu streuen, soweit dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Diese Streupflicht nach § 10 Abs. 4 HStrG stellt eine Amtspflicht im Sinne des Amtshaftungsrechts dar. Auch bei Anwendung dieser Vorschrift gelten folgende, von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze: Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht auf den öffentlichen Straßen unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (vgl. BGH, VersR 1998, 1378 [juris Rn. 7, 8] zu § 10 Abs. 4 HStrG). Innerhalb geschlossener Ortschaften sind nur die Fahrbahnen der Straßen an verkehrswichtigen und gefährlichen S...

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