Entscheidungsstichwort (Thema)
Tätlicher Angriff auf rechtswidrig handelnde Vollstreckungsbeamte
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn ein Gefangener einen tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte begeht, die auf Anordnung eines unzuständigen Beamten gehandelt haben, kann die Strafbarkeit nach §§ 113, 114 StGB entfallen, aber gleichwohl eine Strafbarkeit nach § 223 StGB gegeben sein.
2. Wenn ein Strafgefangener entgegen §§ 50 Abs. 2 Nr. 5, 51 Abs. 1 HStVollzG in einen besonders gesicherten Haftraum verbracht wird, ohne dass dies vom Anstaltsleiter oder seinem Vertreter angeordnet wurde oder Gefahr im Verzug vorliegt, fehlt es an der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung im Sinne von § 113 Abs. 3 Satz 1 StGB.
3. Wenn sich ein Strafgefangener gegen eine solche formell rechtswidrige Diensthandlung wehrt, kann zwar ein gegen ihn gerichteter rechtswidriger Angriff im Sinne von § 32 StGB vorliegen, Notwehr aber nicht „geboten" sein. Einschränkungen, die teilweise im Rahmen des „strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs" des § 113 Abs. 3 StGB erörtert werden, sind stattdessen im Rahmen der Einschränkungen des Notwehrrechts zu verorten. Bei der Prüfung, ob körperliche Gewalt gegen einen formell rechtswidrig handelnden Vollstreckungsbeamten „geboten" ist (§ 32 Abs. 1 StGB), können das staatliche Gewaltmonopol und die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit des Vollstreckungshandelns nachträglich im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage überprüfen zu lassen, zu berücksichtigen sein.
Normenkette
StGB § 113 Abs. 1, 3, §§ 114, 223 Abs. 1, § 32; HStVollzG § 50 Abs. 2 Nr. 5, § 51 Abs. 1, § 53 Abs. 4
Verfahrensgang
LG Kassel (Entscheidung vom 27.01.2023; Aktenzeichen 7 Ns - 1605 Js 18804/21) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 27. Januar 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Kassel zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Kassel hat dem Angeklagten mit Anklageschrift vom 19. August 2021 vorgeworfen, als Strafgefangener am 2. April 2021 in seinem Haftraum einen tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung begangen zu haben. Das Amtsgericht Kassel - Strafrichter - verurteilte ihn wegen dieses Vorwurfs zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Auf die Berufung des Angeklagten sprach ihn das Landgericht - 7. kleine Strafkammer - mit Urteil vom 27. Januar 2023 frei.
Das Landgericht gab den Anklagevorwurf im Tatsächlichen und im Rechtlichen wieder und traf sodann im Wesentlichen folgende eigenen Feststellungen:
Der angeklagte Strafgefangene habe sich lautstark am Fenster seines Haftraums in der JVA Stadt1 unterhalten, es sei - unwiderlegt versehentlich - zu einem Bruch der Fensterscheibe gekommen, diese sei auf den Boden gefallen und zersplittert, so dass Scherben auf dem Boden des Haftraums verteilt gewesen seien. Andere Gefangene, die den Vorgang akustisch wahrgenommen hatten, hätten die Zentrale der JVA informiert und mitgeteilt, dass geschrien worden sei und ein Fenster zu Bruch gegangen sei.
„5. Die Zeugen A, B, C und D begaben sich daraufhin zum Haftraum des Angeklagten und schlossen diesen auf. Der Zeuge A ging etwa einen Schritt in den Haftraum hinein und sprach den Angeklagten, der - nur mit einer Trainingshose bekleidet und barfüßig war - auf seinem Bett, von der Haftraumtür aus gesehen, relativ weit hinten stand, auf die kaputte Fensterscheibe an, fragte, was los wäre, und erklärte ihm sinngemäß, dass er in einen anderen Haftraum müsse. Damit war der Angeklagte, was er auch lautstark und „verbal aggressiv" zum Ausdruck brachte, nicht einverstanden, vermutlich u.a. deshalb, da in einem anderen freien Haftraum kein Fernsehempfang bestehen würde. Seinen Unmut brachte der Angeklagte außer durch lautstarke Worte auch dadurch zum Ausdruck, dass er ein Buch, das er in der Hand hielt, zu Boden vor die Füße des Zeugen A warf, ohne diesen treffen zu wollen. Da mit dem Angeklagten nach Einschätzung des Zeugen A und seiner Kollegen nicht zu reden war, zogen sie sich zurück und verschlossen die Haftraumtür.
6. Aufgrund der im Haftraum befindlichen Scherben war für A und seine Kollegen klar, dass der Angeklagte den Haftraum verlassen musste. Nach dem Eindruck des Zeugen A stand der Angeklagte, der zwar relativ klein, aber von kräftiger Statur ist, „unter Strom" und verhielt sich aggressiv, so dass es als zu gefährlich eingeschätzt wurde, dem Angeklagten ungeschützt gegenüber zu treten.
Die Beamten kamen überein, sich - wie in solchen Fällen üblich - mit der dafür bereitstehenden Schutzbekleidung einschließlich Schutzhelmen und -handschuhen auszurüsten, wobei beschlossen wurde, dass anstelle der Zeugin C der Justizvollzugsbeamte E an der Maßnahme beteiligt werde und die Zeugin C dessen Posten auf „dem Turm" übernehme.
7. Der Zeuge A schätzte aufgrund des Verhaltens des Angeklagten die Lage so ein, das...