Leitsatz (amtlich)
1. Für die Zulässigkeit von Beweisfragen im Arzthaftungsbeweisverfahren reicht es aus, wenn diese der Klärung dienlich sind, ob die Behandlung vom geschuldeten ärztlichen Standard abgewichen ist und eine Erklärung für die Ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigung liefern können.
2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es gewisse Anhaltspunkte für das Vorliegen von Behandlungsfehlern gibt und nicht von vorne herein evident ist, dass ein solcher Anspruch nicht bestehen kann.
3. Auch Beweisfragen, mit denen die tatsächlichen Grundlagen für die Bewertung als grober Behandlungsfehler geschaffen oder eine fehlerhafte Risikoaufklärung hinterfragt werden sollen, sind zulässig.
4. Es macht keinen Unterschied, ob ein Patient durch einen Behandlungsfehler geschädigt wurde und dies im Rahmen des Beweisverfahrens abklären darf oder infolge einer unzureichenden Aufklärung sogar durch eine rechtswidrige Körperverletzung beeinträchtigt wurde.
5. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur Vorlage seiner Behandlungsdokumentation folgt aus der Logik der §§ 421 ff. ZPO, wonach es dem Sinn und Zweck des Beweisverfahrens zur außergerichtlichen Streitbeilegung dient, dass der Sachverständige die notwendigen Grundlagen für die Begutachtung erfährt.
Verfahrensgang
LG Siegen (Aktenzeichen 2 OH 2/19) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hin wird der Beschluss des Landgerichts Siegen vom 07.05.2019 wie folgt abgeändert:
A. Es soll Beweis erhoben werden durch Einholung eines neurochirurgischen Gutachtens über folgende Fragen:
1. Liegen bei der Antragstellerin pathologische Zustände
a. im Bereich der Wirbelsäule auf Höhe L5/S1
b. im Bereich des linken Beins und der Gesäßregion links vor,
die durch einen Fehler beim Einsetzen des Implantats und/oder Verwendung eines nicht dem medizinischen Standards entsprechenden Implantats bei der Wirbelsäulenoperation vom 13.04.2017 und der weiteren Operation vom 09.10.2018 verursacht worden sind?
2. Soweit Fehler bejaht werden, handelt es sich um grobe oder einfache Fehler?
3. Weist das bei der Operation vom 13.04.2017 eingebrachte Barricaid-Implantat Funktions- und/oder Materialfehler auf (ist es z.B. gebrochen)?
4. Genügt die Aufklärung über bestehende Risiken und evtl. bestehende echte Behandlungsalternativen dem damals üblichen medizinischen Standard?
5. Soweit Behandlungsfehler bejaht werden:
Welche weiteren Maßnahmen sind mit welchen Kosten nunmehr erforderlich, um den pathologischen Zustand zu beseitigen bzw. zu therapieren.
B. 1. Soweit erforderlich, soll der Sachverständige die Antragstellerin untersuchen.
2. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, ihre Behandlungsunterlagen dem Sachverständigen zur Verfügung zu stellen.
Im weitergehenden Umfang wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. Riemer Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Beschwerdewert wird auf 31.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die sofortige Beschwerde ist im Wesentlichen begründet.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts war auch die zweite Operation in die Beweisfragen einzubeziehen; denn für die Zulässigkeit des Beweisverfahrens in Arzthaftung reicht es aus, wenn es um die Frage geht, ob die Behandlung vom geschuldeten ärztlichen Standard abweicht und damit eine Erklärung für die Ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigung liefern kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es gewisse Anhaltspunkte für das Vorliegen von Behandlungsfehlern gibt bzw. nicht von vornherein evident ist, dass ein solcher Anspruch nicht bestehen kann. Da nach der Darlegung der Antragstellerin das verwandte Implantat in einer weiteren Klinik unbekannt, dies zudem disloziert war und die Operateure in der zweiten Operation nicht in der Lage waren, dies Implantat zu entfernen ließ, ist es ohne Erkenntnisse eines Sachverständigen nicht auszuschließen, dass es zu Fehlern gekommen ist, weil z.B. entweder dies Implantat ungeeignet war, falsch eingesetzt wurde oder noch nicht ausreichend erprobt war bzw. die Operateure dies Implantat nicht beherrschten. Es ist folglich nicht so, dass die Antragstellerin lediglich "ins Blaue hinein" die Behauptung von Behandlungsfehlern aufgestellt hat.
Hinsichtlich der Fragen, ob ein grober Fehler vorliegt oder nicht, war zwar bislang in der Rechtsprechung einhellige Meinung, dass diese Fragen einer Klärung des Hauptsacheverfahrens vorbehalten ist, weil die Bewertung letztlich dem Gericht obliegt. Nachdem aber der BGH die Frage nach dem Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers nicht für grundsätzlich unzulässig gehalten hat (BGH MedR 2014, 302 Rnr. 22), wird man diese Frage, mit der die tatsächlichen Grundlagen für die Bewertung als grober Behandlungsfehler geschaffen werden sollen, nicht mehr ausschließen können.
Soweit es um die Vorlage von Unterlagen geht, hat der BGH die direkte bzw. analoge Anwendung des § 142 ZPO bislang im selbständigen Beweisverfahren abgelehnt und darauf verwiesen, dass die Vorschrift des § 492 Abs. 1 ZPO nicht auf diese...