Leitsatz (amtlich)
1. Da die mit dem Entzug der elterlichen Sorge verbundene Trennung des Kindes von einem leiblichen Elternteil für diesen den stärksten vorstellbaren Eingriff in sein durch Art. 6 II, III GG geschütztes Elternrecht darstellt, ist eine solche Maßnahme nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar; sie scheidet insbesondere dann aus, wenn mildere Mittel zur Abwendung der bestehenden Gefährdung für das kindliche Wohl vorhanden sind.
2. Die Zustimmung der Eltern zur Fremdunterbringung ihres gemeinsamen Kindes und die Erteilung einer widerruflichen Vollmacht zur Regelung aller von der elterlichen Sorge umfassten Angelegenheiten des Kindes gegenüber einem Dritten stellt jedenfalls dann kein geeignetes Mittel zur Abwendung der von den Eltern ausgehenden Gefährdung für das Kindeswohl dar, wenn mit dem Widerruf der Erklärungen zu rechnen ist.
Normenkette
BGB §§ 168, 1666, 1666a
Verfahrensgang
AG Marl (Beschluss vom 16.03.2010; Aktenzeichen 20 F 249/09) |
Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1) gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - Marl vom 16.3.2010 wird zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Beteiligten zu 1) und 2) sind die leiblichen Eltern des betroffenen Kindes N M (geb. am 6.5.1997). Sie haben im Dezember 1984 die Ehe miteinander geschlossen. Seit Dezember 2005 leben sie voneinander getrennt. Ihre Ehe ist seit Anfang 2007 rechtskräftig geschieden.
N ist bereits vor der Trennung seiner Eltern wegen erheblicher Erziehungsschwierigkeiten und wegen seiner provokativen und destruktiven Verhaltensweisen nach einem stationären Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in E vom 21.3.2005 bis zum 6.7.2005 auf Antrag beider Eltern in ein Förderschulinternat aufgenommen worden. In der Zeit nach der Trennung der Eltern bis August 2008 fanden zunächst regelmäßige Umgangskontakte des Kindes mit seinen Eltern im wöchentlichen Wechsel statt. Nach einem Urlaubsaufenthalt mit seiner Mutter und ihrem Lebenspartner im Sommer 2008 brach N den Kontakt zu ihr ab. Seitdem verweigert er den Umgang mit seiner Mutter. Der Umgang mit dem Vater findet weiterhin in regelmäßigen Abständen statt. Bis August 2009 verschlechterten sich seine schulischen Noten. Das Jungendamt berichtet in diesem Zusammenhang von verstärkten Verhaltensauffälligkeiten des Jungen in der Schule. Nach einem Urlaubsaufenthalt mit seinem Vater im Sommer 2009, bei welchem der Vater - nach dessen eigenen Angaben - einen Nervenzusammenbruch erlitt, wurde N in einem Kinderheim untergebracht, da er sich weigerte, in das Förderschulinternat zurückzukehren. Der Wiederaufbau der Umgangskontakte mit der Mutter, die im Sommer 2010 an Lymphdrüsen- und Brustkrebs erkrankt ist und sich seitdem in regelmäßiger ärztlicher Behandlung befindet, gestaltet sich schwierig vor dem Hintergrund der Verweigerungshaltung des Kindes. Es haben ein einmaliger Kontakt im März 2010 und zwei weitere Treffen im Frühjahr 2011 stattgefunden. Aktuell verweigert N den Umgang mit seiner Mutter erneut. Er begründet seine Ablehnung damit, dass sie sich in einem Telefongespräch mit ihm abwertend in Bezug auf seinen Vater geäußert und sich bei ihm nicht dafür entschuldigt habe.
In einem vom Vater des Kindes eingeleiteten Verfahren auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge (20 F 455/05 AG Marl) haben sich die Eltern im Januar 2006 zunächst darauf geeinigt, dass die gemeinsame elterliche Sorge für N bestehen bleiben soll.
Auf Anregung des Jugendamts hat das AG - Familiengericht - Marl im Verfahren 20 F 132/08 durch Beschluss 8.12.2008 beiden Eltern Teile der elterlichen Sorge, beschränkt auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht auf Gewährung von Umgang mit der Mutter, die Gesundheitsfürsorge im psychologisch/psychiatrischen Bereich und das Recht auf Regelung von Angelegenheiten mit Behörden und Ämtern, gem. § 1666 BGB entzogen. Als Ergänzungspflegerin wurde Frau S aus C bestellt. Dem teilweisen Sorgerechtsentzug lag ein Sachverständigengutachten des Dr. B vom 7.11.2008 zugrunde, in welchem er festgestellt hat, dass es den Eltern von N an der zum Treffen von Absprachen in Kindesbelangen notwendigen Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit fehle. Darüber hinaus hat der Sachverständige in seinem Gutachten festgestellt, dass sich das Kind in einem zunehmenden, durch die eingeschränkte Bindungstoleranz seines Vaters begünstigten Loyalitätskonflikt befinde, der bei ihm dazu geführt habe, dass er seine ursprünglich vorhandene sichere Bindung an seine Mutter verloren habe. Dadurch habe sich bei N ein Entfremdungssyndrom entwickelt, welches die Gefahr einer paranoiden Fehlentwicklung in sich berge. Seine Empfehlung ging dahin, den Umgang zwischen Kind und Mutter wiederanzubahnen und im Falle einer beharrlichen...