Leitsatz (amtlich)

1. Wählt der Arzt eine Neulandmethode, hat er den Patienten über diesen Umstand sowie über die alternativen Behandlungsmethoden aufzuklären.

2. Es bedarf einer besonderen Aufklärung über die Neulandmethode, wenn diese noch keine Standardmethode darstellt.

3. Bei einem neuen Operationsverfahren (Netzimplantat bei Senkungsoperation) ist die Patientin ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass unbekannte Komplikationen auftreten können.

4. Bei Auftreten einer persistierenden Schmerzhaftigkeit der Scheide, kann ein Schmerzgeld von 35.000,- EUR angemessen sein.

 

Normenkette

BGB §§ 249, 253, 280, 823

 

Verfahrensgang

LG Siegen (Aktenzeichen 2 O 1/15)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten zu 1) gegen das am 05. Mai 2017 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Siegen wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufungsinstanz werden der Beklagten zu 1) auferlegt.

Das angefochtene Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte zu 1) darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte zu 1) wegen einer vermeintlich unzureichenden Aufklärung vor einem operativen Eingriff vom 16.04.2008 sowie Behandlungsfehlern auf Schmerzensgeld, Feststellung zukünftiger Schadensersatzpflicht und Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Anspruch.

Aufgrund einer Überweisung durch den Frauenarzt G wegen einer Belastungsharninkontinenz stellte sich die am ........1956 geborene Klägerin am 02.04.2008 in der urodynamischen Sprechstunde im Hause der Beklagten zu 1) vor. Der Klägerin wurde nach Diagnosestellung folgender Therapievorschlag gemacht: "Anterior und posterior repair mit Prolift-Mesh. Bei Persistenz oder Zunahme der Belastungsinkontinenz WV in unserer UDM-Sprechstunde, ggf. sek. TVT-Insertion".

Die Klägerin unterschrieb am 15.04.2008 zwei Aufklärungs- und Einverständniserklärungsbögen über die Einbringung eines Netzes als neues Operationsverfahren (Bl. 69-74 d. A.). Zudem unterschrieb die Klägerin am selben Tag eine weitere am Ende des Aufklärungsbogens "Operationen bei Harninkontinenz" befindliche Einverständniserklärung.

Der operative Eingriff erfolgte am 16.04.2008. Das Prolift-Netz wurde transobturatoriell und transischiorektal eingebracht. Die stationäre Behandlung der Klägerin dauerte bis zum 24.04.2008.

Am 04.07.2008 stellte sich die Klägerin erneut bei der Beklagten zu 1) vor und berichtete unter anderem von einer Dyspareunie. In einem an den Gynäkologen der Klägerin gerichteten Arztbrief wurde der Verdacht geäußert, dass die Schmerzen durch eine Strangbildung im Bereich des Vaginalstumpfes verursacht würden. Darüber hinaus wurde eine restliche Harninkontinenz festgestellt.

Im Oktober 2008 stellte sich die Klägerin ein weiteres Mal bei ihrem Gynäkologen vor und berichtete von schmerzhaften Beschwerden beim Geschlechtsverkehr. Kurz darauf schloss sich ein stationärer Aufenthalt im Klinikum X-C an. Dort erfolgte am 09.12.2008 eine Spaltung und partielle Exzision des einliegenden Netzgewebes.

Im Zeitraum vom März 2009 bis April 2009 erfolgten - unter anderem wegen Dyspareunie - weitere vier operative Eingriffe, bei denen weitere Teile des Netzgewebes entfernt wurden. Auch danach klagte die Klägerin bei ihrer Gynäkologin über persistierende Schmerzempfindungen.

Die Klägerin hat behauptet, nicht über alternative Behandlungsmethoden aufgeklärt worden zu sein. Es habe die Möglichkeit der Faszienraffung ohne Fremdmaterial bestanden. Hieraus folge gleichzeitig ein Behandlungsfehler, da dies seinerzeit die Methode der Wahl gewesen sei. Eine Indikation für einen Gewebeersatz habe nicht bestanden. Die streitgegenständliche Operation habe ihren Zustand verschlechtert. Es sei zur Verschlimmerung der Belastungsharninkontinenz und zur Schrumpfung des Netzes gekommen, wodurch starke Schmerzen verursacht worden seien. Die sich hieraus entwickelnde Dyspareunie habe zu einem hohen Leidensdruck geführt. Bis zu Entfernung des vorderen Netzes sei kein Geschlechtsverkehr mehr möglich gewesen, danach nur unter Schmerzen, die als Dauerschaden anzusehen seien.

Das Landgericht hat der Klage gestützt auf ein gynäkologisches Sachverständigengutachten teilweise stattgegeben und die Beklagte zu 1) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 35.000 EUR nebst Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht verurteilt. Der Eingriff vom 16.04.2008 sei fehlerfrei durchgeführt worden, aber rechtswidrig, weil er nicht von einer wirksamen Einwilligungserklärung der Klägerin gedeckt gewesen sei. Die gewählte Vorgehensweise mit Einsatz eines vorderen, zentralen und hinteren Interponates sei zum Zeitpunkt des operativen Eingriffs keine Standardoperation gewesen, bei dem seit 2005 eingesetzten Verfahren habe ein geringer Erfahrungsschatz bestanden. Es habe sich um ein neues Verfahren mit noch nicht abschließender Beurteilung gehandelt. Die Probleme derartiger Kunstnetze...

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