Entscheidungsstichwort (Thema)
Obliegenheitsverletzung in der Kfz-Kaskoversicherung durch Entfernen vom Unfallort
Leitsatz (amtlich)
1. Es stellt keine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit gemäß E.1.1.3, 1. Spiegelstrich AKB 2015 dar, wenn der Versicherte nach einem schweren Verkehrsunfall ohne Fremdbeteiligung und bei klarer Haftungslage zur Nachtzeit im Januar auf einer Landstraße in dörflicher Gegend, bei dem er sich eine blutende Kopfverletzung zugezogen hatte, trotz eines verursachten Fremdschadens von ca. 200 EUR den Unfallort zur ärztlichen Abklärung seines Gesundheitszustandes ohne Einhaltung einer Wartezeit verlässt.
2. Jedenfalls ist in einem solchen Fall das Entfernen von der Unfallstelle berechtigt.
3. Mit der telefonischen Unterrichtung der Polizei am nächsten Morgen wird in diesem Fall einer etwaigen Obliegenheit zur unverzüglichen nachträglichen Ermöglichung von Feststellungen noch genügt.
Normenkette
AKB 2015 Ziff. E.1.1.3; StGB § 142; VVG § 28
Verfahrensgang
LG Heidelberg (Urteil vom 18.02.2020; Aktenzeichen 2 O 312/19) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts H vom 18.02.2020, Az. 2 O 312/19, im Kostenpunkt aufgehoben und wie folgt abgeändert:
a) Die Beklagte wird verurteilt, 15.150,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 06.10.2019 an den Kläger zu zahlen.
b) Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 958,19 EUR freizustellen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer Vollkaskoversicherung.
Der Kläger unterhält bei der Beklagten seit dem 27.02.2018 unter der Versicherungsnummer ... eine Vollkaskoversicherung mit einer Selbstbeteiligung in Höhe von 300,00 EUR (vgl. den Versicherungsschein AS 1 Anlageheft Kläger 2. Instanz).
Die dem Vertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Bedingungen für die Kfz-Versicherung (AKB 2016) - Stand 01.04.2016 (im Folgenden: AKB [vgl. AS 7 Anlageheft Beklagte 2. Instanz]), die in 2. Instanz erstmalig angefordert wurden, enthalten unter anderem die folgenden Regelungen:
"E.1.1.3
Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs unserer Leistungspflicht erforderlich ist. Sie müssen dabei insbesondere folgende Pflichten beachten:
- Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).
(...)
E.2.1
Verletzen Sie vorsätzlich eine Ihrer in E.1.1 bis E.1.6 geregelten Pflichten, haben Sie keinen Versicherungsschutz. Verletzen Sie Ihre Pflichten grob fahrlässig, sind wir berechtigt, unsere Leistung in einem der Schwere Ihres Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Weisen Sie nach, dass Sie die Pflicht nicht grob fahrlässig verletzt haben, bleibt der Versicherungsschutz bestehen.
E.2.2
Abweichend von E.2.1 sind wir zur Leistung verpflichtet, soweit Sie nachweisen, dass die Pflichtverletzung weder für die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang unserer Leistungspflicht ursächlich war. Dies gilt nicht, wenn Sie die Pflicht arglistig verletzen."
Am 28.01.2019 befuhr der Kläger mit seinem PKW VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen ... aus B kommend die Kreisstraße K... in Richtung G. An der Einmündung K.../L... überfuhr er ein Verkehrsschild (Sachschaden: 200,00 EUR), das Fahrzeug überschlug sich und kam in dem neben der Straße verlaufenden Bach zum Endstand. Der Kläger begab sich nach der Kollision zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt zurück zu einem Vereinsheim in B. Um 7:00 Uhr verständigte er seine Ehefrau telefonisch über den Unfall. Die Ehefrau des Klägers holte diesen in der Folge im Vereinsheim in B ab und verbrachte ihn in das J-Krankenhaus in H. Durch den Unfall zog sich der Kläger eine 10 cm lange klaffende, 1 cm tiefe Risswunde oberhalb der Hutkrempe orthogonal zur Sagitalnaht auf der Verbindungslinie zwischen den Ohren sowie eine Hautablederung und eine Schürfwunde zu (vgl. den vorläufigen Arztbrief in Anl. K1). Gegen 8:30 Uhr verständigte die Ehefrau des Klägers die Polizei.
Ausweislich eines im Auftrag der Beklagten erstellten Gutachtens vom 06.02.2019 (Anl. K 2) lagen die unfallbedingten Reparaturkosten bei 41.650,00 EUR brutto, der Wiederbeschaffungswert bei 16.800,00 EUR brutto und der Restwert bei 1.350,00 EUR.
Ein unter dem Az. ... Js .../19 gegen den Kläger geführtes Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des unerlaubten Entfernens vom Unfallort wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft H vom 21.05.2019 gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt (vgl. AS 59 der beigezogenen Ermittlungsakte).
Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 14.06.2019 (Anl. K3) eine Regulierung ab. Zur Begründung führte sie an, der Kläger habe Obliegenheiten aus dem Versicherungsvertrag verletz...