Entscheidungsstichwort (Thema)
Ärztliche Aufklärung über Schnittentbindung nur bei Risikogeburt; keine Berücksichtigung des in zweiter Instanz nachgeschobenen neuen Sachvortrags zur Geburtsleitung
Leitsatz (amtlich)
1. Der geburtsleitende Arzt hat alle medizinischen Befunde bei Mutter und Kind in wertender Gesamtschau zu berücksichtigen. Fehlt es hiernach an signifikanten Hinweisen für eine drohende Risikogeburt, muss er die Schwangere nicht über die Möglichkeit der sectio aufklären oder die Schnittentbindung gar empfehlen. Zur Bedeutung und Gewichtung mehrerer vermeintlicher Risikofaktoren.
2. Eine Schulterdystokie mit Erb'scher Parese belegt nicht ohne weiteres Versäumnisse und/oder Fehler des geburtsleitenden Arztes.
3. Die erleichterte Darlegungspflicht im Arzthaftungsprozess bedeutet nicht, dass der Patient in zweiter Instanz außerhalb der Berufungsbegründungsfrist und ungeachtet der Hürde des § 531 Abs. 2 ZPO seinen Sachvortrag ändern und ergänzen darf.
Normenkette
BGB §§ 249, 253, 276, 278, 280, 611, 823, 831; ZPO §§ 282, 286, 296, 520, 525, 531
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 29.05.2013; Aktenzeichen 10 O 74/10) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Koblenz vom 29.5.2013 wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagten Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der am 13.2.2004 geborene Kläger begehrt, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, von den Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie die Feststellung der künftigen Ersatzpflicht für die Folgen einer nach Schulterdystokie rechtsseitig erlittenen Erb'schen Parese (Schlussanträge erster Instanz: 308, 364 GA).
In erster Instanz hat er gerügt, dass seine Mutter, trotz vorhandener Risiken für eine vaginale Geburt, über die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht aufgeklärt worden sei. Nach dem Eintritt der Schulterdystokie sei die Geburt fehlerhaft, insbesondere durch kontraindizierte Druck- und Ziehbewegungen beendet worden.
Das (zweifach) sachverständig beratene LG hat die Klage nach Anhörung der Mutter des Klägers sowie der Beklagten zu 2, 3 und 4 abgewiesen. Die geburtshilfliche Behandlung sei korrekt gewesen. Nach dem Eintritt der Schulterdystokie seien weder eine Kristellerhilfe noch unzulässige Druck- oder Ziehbewegungen vorgenommen worden. Sowohl das "McRoberts-" als auch das "Woods-Manöver" seien in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt worden. Über die Möglichkeit der Schnittentbindung sei nicht aufzuklären gewesen. Die allgemein anerkannten Kriterien für eine solche Aufklärung hätten nicht vorgelegen.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiter verfolgt:
Das LG habe sich mit der Aufklärungsrüge nur unzureichend auseinandergesetzt. Seine Mutter sei extrem schlank und Erstgebärende gewesen. Aufgrund ihrer geringen Körpergröße und ihres Ausgangsgewichts sei von einer exzessiven Gewichtszunahme während der Schwangerschaft auszugehen. Diese Umstände hätten auf ein relatives Missverhältnis zwischen der Weite des Geburtskanals und der voraussichtlichen Größe des kindlichen Körpers hingedeutet. Das Geburtsgewicht sei fehlerhaft berechnet und das disproportionale Kindswachstum nicht erkannt worden. Wegen des Verdachts auf das Vorliegen eines mütterlichen Gestationsdiabetes und des im Urin nachgewiesenen Zuckers sei eine Aufklärung über eine Schnittentbindung zwingend erforderlich gewesen. Neben einer primären sei auch eine sekundäre Schnittentbindung zu erwägen gewesen. Zu beanstanden sei auch die Geburtsleitung. Mit der Anleitung zum Pressen vor dem Beginn der natürlichen Presswehen gegen 13.15 Uhr und der Anwendung des Kristeller-Manövers etwa gegen 13.44 Uhr sei die Geburt unnötig und ohne Indikation beschleunigt worden. Würde man hingegen von einem protrahierten Geburtsverlauf ausgehen, hätte die Mutter über Handlungsalternativen aufgeklärt werden müssen. Mit Sicherheit sei auszuschließen, dass der Armplexusschaden auf anderen Ursachen als der Schulterdystokie beruhe. Letztlich sei diese fehlerhaft behoben worden, weil eine Bolus-Tokolyse und eine innere Wendung unter suffizienter Analgesie unterlassen worden seien. Dies sei als grober Behandlungsfehler zu werten.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil. Der Kläger gehe von einem unzutreffenden Sachverhalt aus. Es sei nicht zu Zerreißungen an den Nervenwurzeln C5-C7 gekommen. Weder sei das Nervengeflecht als Ganzes beschädigt worden, noch sei ein Ausriss des Nervs an der Wurzel festzustellen gewesen. Der Grenzwert für eine disproportionale Kindesentwicklung sei nicht erreicht gewesen, so dass eine Schnittentbindung nicht habe in Betracht gezogen werden müssen. Ob eine Übergewichtigkeit vorliege, sei von den behandelnden...