Entscheidungsstichwort (Thema)
Ärztliche Aufklärungs- und Geburtsleitungspflicht bei adipöser Zweitgebärender und makrosomem Kind mit Schulterdystokie
Leitsatz (amtlich)
1. Dass eine Zweitgebärende ihr erstes Kind durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht hat und nunmehr eine natürliche Geburt wünscht, enthebt den Arzt bei einer Risikolage nicht der Verpflichtung, darüber und die Möglichkeit einer Sectio aufzuklären.
2. Die Fehlprognose des Geburtsgewichts und das Nichterkennen der daraus resultierenden Risikolage führen nicht zur Haftung des Arztes wegen eines Aufklärungsversäumnisses, wenn er alle maßgeblichen Befunde sachgemäß erhoben und in vertretbarer Weise gedeutet hat.
3. Fehlen Anhaltspunkte für ein makrosomes Kind, erfordert die Geburtsleitung nicht die unmittelbare Anwesenheit eines Facharztes, wenn der Assistenzarzt einen genügenden Ausbildungsstand und hinreichende praktische Erfahrungen hat. Dies ist nicht dadurch in Frage gestellt, dass die weitere Entwicklung des Kindes durch das McRoberts-Manöver misslingt.
4. Gelingt es der Hebamme nach einem hohen Schultergradstand und stillstehender Geburt, das Kind vollständig zu entwickeln, führt eine Schulterdystokie nicht zur Haftung des Krankenhauses, wenn nicht feststeht, dass die Hebamme in unsachgemäßer Weise auf das Kind eingewirkt hat.
Normenkette
BGB §§ 276, 278, 611, 823, 847
Verfahrensgang
LG Trier (Urteil vom 31.01.2002; Aktenzeichen 6 O 204/99) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des LG Trier vom 31.1.2002 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, sofern die Beklagten nicht vor der Vollstreckung eine entsprechende Sicherheit leisten
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der am 1.7.1998 um 16.17 Uhr geborene Kläger nimmt den beklagten Gynäkologen und das beklagte Krankenhaus auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 65.000 EUR nebst Zinsen sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich materieller Schäden in Anspruch.
Der Kläger behauptet, seine Mutter sei vor der Geburt pflichtwidrig nicht über die Möglichkeit und das Erfordernis eines Kaiserschnitts aufgeklärt worden; darüber hinaus sei es unter der Geburt zu Versäumnissen und Fehlern gekommen. Dadurch habe er eine Schulterdystokie erlitten.
Die am 19.11.1971 geborene Mutter des Klägers hatte am 17.8.1996 ihr erstes Kind durch Kaiserschnitt entbunden. Zu Beginn dieser Schwangerschaft hatte sie bei einer Körpergröße von 1,70 Meter 85 kg gewogen. Der Kaiserschnitt wurde drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin wegen schlechter Herztöne des Kindes durchgeführt; der ältere Bruder des Klägers wog bei der Geburt 3550 Gramm.
Zu Beginn der zweiten Schwangerschaft, die von dem Erstbeklagten ärztlich betreut und überwacht wurde, wog die Mutter des Klägers 96 Kilogramm. Die Gewichtszunahme bis zur Entbindung des Klägers betrug ca. 7 kg. Am 12.6.1998 wurde letztmals eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt, die einen Kopfumfang des Klägers von 345 mm ergab. Der Erstbeklagte schätzte daraufhin das Geburtsgewicht des Klägers auf ca. 3.500 Gramm.
Tatsächlich wog der Kläger bei der Geburt (3 Tage nach dem errechneten Termin) jedoch 4.720 Gramm. Unter der Geburt kam es zu einem hohen Schultergradstand. Während der die Geburt leitende Assistenzarzt, der Zeuge Dr. G., nach dem beklagten Chefarzt telefonierte, gelang es der Hebamme, der Zeugin Monika W., den Geburtsstillstand zu beheben und die Schulter des Klägers zu entwickeln. Dabei soll die Schulterdystokie links verursacht worden sein.
Der Kläger führt die Beeinträchtigung auf den versäumten Kaiserschnitt und eine unsachgemäße Geburtsleitung zurück. Die Häufigkeitsprogredienz für eine derartige Beeinträchtigung nehme ab einem Geburtsgewicht von 4000 Gramm signifikant zu. Auch das Gewicht seiner Mutter bei Beginn der Schwangerschaft habe den Erstbeklagten veranlassen müssen, über die Möglichkeit und das Erfordernis eines Kaiserschnitts aufzuklären. Gegebenenfalls hätte seine Mutter sich dafür entschieden.
Der Assistenzarzt Dr. G. sei mit dem Stillstand der Geburt und der Behebung des hohen Schultergradstands überfordert gewesen. Im Kreissaal hätten chaotische Zustände geherrscht.
Die Beklagten haben erwidert, die Mutter des Klägers habe eine natürliche Geburt gewünscht. Der Erstbeklagte habe die Befunde während der Schwangerschaft vollständig erhoben und richtig, jedenfalls aber vertretbar gedeutet. Die Fehleinschätzung des Geburtsgewichts des Klägers sei nicht vorwerfbar. Es habe kein Grund bestanden, über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts aufzuklären. Auch die Geburtsleitung sei nicht zu beanstanden.
Das LG hat Sachverständigenbeweis erhoben und die Klage hiernach abgewiesen. Die allenfalls mäßige Adipositas der Mutter sei kein hinreichender Grund gewesen, über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts ...