Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulänglichkeit einer Sicherungsaufklärung über lediglich allgemeine Risiken
Leitsatz (amtlich)
1. Äußert ein Patient, der an einer schweren Herzerkrankung leidet (hier Noncompaction Kardiomyopathie) und bei dem unmittelbar zuvor eine Medikamentenumstellung erfolgt ist, die ihrerseits zu schwerwiegenden Herzrhythmusstörungen führen kann, den Wunsch, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, so ist eine Sicherungsaufklärung, die sich auf die allgemeinen Risiken der Erkrankung beschränkt, auch wenn diese die Konsequenz möglichen Versterbens umfassen, nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr ein Hinweis auf die besonderen, sich aus der Medikamentenumstellung ergebenden Gefahren.
2. Bei einer auf eine konkrete Verhaltensweise ausgerichteten Sicherungsaufklärung spricht eine tatsächliche Vermutung für ein aufklärungsrichtiges Verhalten des Patienten.
3. Es unterliegt keinen vernünftigen Zweifeln, dass eine stationär gewährleistete Überwachung des Patienten den Eintritt eines hypoxischen Hirnschadens als Folge einer minutenlangen Sauerstoffunterversorgung verhindert.
4. Zur Annahme eines groben Behandlungsfehlers bei Zusammentreffen mehrerer behandlungsfehlerhafter und risikoreicher ärztlicher Entscheidungen.
5. Bei unzureichender Sicherungsaufklärung kommt ein Mitverschulden des Patienten wegen des geäußerten Wunsches nach Entlassung nicht in Betracht.
Normenkette
BGB §§ 253, 280, 611, 823
Verfahrensgang
LG Bonn (Urteil vom 04.02.2010; Aktenzeichen 9 O 425/08) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 4.2.2010 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 425/08 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der am 0.00.1982 geborene Kläger leidet an einer Noncompaction Kardiomyopathie, einer angeborenen Herzerkrankung, die eine Herzmuskelschwäche und schwere Herzrhythmusstörungen zur Folge hat. Seit Anfang 2004 befand er sich deswegen wiederholt in stationärer und ambulanter Behandlung, insbesondere in dem in der Nähe seiner Wohnung gelegenen Krankenhaus der Beklagten. Am 23.4.2004 erfolgte die Implantation eines Defibrillators (ICD) im Klinikum links der Weser in C., dessen Aggregat dort am 4.3.2005 nach einem Rückruf des Herstellers gewechselt wurde. Der Kläger nahm den Betablocker Bisoprolol, zeitweise zusammen mit weiteren Medikamenten, ein.
Am 1.4.2005 kam es zu einer Herzrhythmusstörung, der Kläger verlor das Bewusstsein und stürzte, worauf er mit einer Platzwunde im Krankenhaus der Beklagten aufgenommen wurde. Die behandelnden Ärzte setzten den Betablocker Bisoprolol sofort vollständig ab und verabreichten das Antiarhythmikum Amiodaron. Am 2.4.2005 verließ der Kläger gegen Mittag das Krankenhaus, wobei die Einzelheiten hierzu zwischen den Parteien streitig sind. In den Behandlungsunterlagen hat der Oberarzt A. Folgendes eingetragen: "11.30 Visite Entlassung auf eigenen Wunsch mit der dringenden Ermahnung, sich bei Zunahme der Rhythmusstörungen sofort wieder vorzustellen."
Am 4.4.2005 traten um 0.11 Uhr vom Kläger bemerkte Herzrhythmusstörungen auf. Zwischen 18.40 Uhr und 19.13 Uhr kam es zu sechs Episoden mit schweren Herzrhythmusstörungen. Die Angehörigen des Klägers riefen deshalb den Notarzt herbei. Bei dessen Eintreffen war der Kläger bei Herz-Kreislaufstillstand bewusstlos. Ausweislich der Behandlungsunterlagen wurde der Kläger gegen 20.10/20.15 Uhr im Krankenhaus der Beklagten aufgenommen, wo die Ärzte die vom Notarzt begonnenen Reanimationsmaßnahmen weitere 15 Minuten fortführten. Während die Herz-Kreislauffunktionen wieder hergestellt werden konnten, blieb beim Kläger eine hypoxische Hirnschädigung mit Tetraparese zurück. Er befindet sich im Wachkoma.
Der Kläger hat der Beklagten vorgeworfen, dass das Absetzen, jedenfalls das sofortige vollständige Absetzen von Bisoprolol bei unzureichender vorheriger Befunderhebung genauso behandlungsfehlerhaft gewesen sei wie seine verfrühte Entlassung aus dem Krankenhaus. Vor einer - bestrittenen - Entlassung auf eigenen Wunsch habe er über deren Risiken aufgeklärt werden müssen, was nicht geschehen sei. Über die Risiken der Ummedikation von Bisoprolol auf Amiodaron sei er ebenfalls nicht aufgeklärt worden.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 10.000 EUR, zu zahlen,
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm alle weiteren, vergangenen, zukünftigen, materiellen und immateriellen Schäden, welche aus der fehlerhaften Behandlung vom April 2005 resultieren, zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonsti...