Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassene Heparintherapie und unterlassene intensivmedizinische Maßnahmen bei moribundem Patienten
Leitsatz (amtlich)
1. Das Unterlassen einer grundsätzlich gebotenen begleitenden Heparintherapie nach dem (fachlich korrekten) Absetzen von Marcumar bei einem schwerstkranken Patienten stellt sich nicht als grober Behandlungsfehler dar, wenn eine medizinisch schwierige Risikoabwägung erfolgen muss zwischen einem Embolie- und einem Hirnblutungsrisiko.
2. Zur Frage der Kausalität zwischen dem fehlerhaften Unterlassen einer Heparintherapie und dem Tod des Patienten.
3. Die Dokumentation dient ausschließlich medizinischen Zwecken, nämlich der Information des mit- oder nachbehandelnden Arztes oder dem Festhalten dessen, was für den Behandler zu einem späteren Zeitpunkt bedeutsam ist, nicht der Beurteilung der Richtigkeit des ärztlichen Vorgehens. Befindet sich ein Patient in einem unmittelbaren Sterbeprozess, muss nicht jede einzelne Untersuchungsmaßnahme mehr festgehalten werden. Es genügt zur Dokumentation die zusammenfassende Beschreibung "moribund".
Normenkette
BGB §§ 249, 280, 611, 823
Verfahrensgang
LG Bonn (Urteil vom 19.04.2013; Aktenzeichen 9 O 419/11) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 19.4.2013 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 419/11 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
Das vorliegende Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagten, denen er Behandlungsfehler vorwirft, aus ererbtem Recht seiner Ehefrau (im Folgenden auch: Patientin) auf Schmerzensgeld und aus eigenem Recht auf Ersatz von Beerdigungskosten und Haushaltsführungsschaden sowie Feststellung der Ersatzpflicht in Anspruch.
Bei der am 5. xx. 1921 geborenen Patientin war seit dem Jahr 2002 ein Vorhofflimmern bekannt. Im Jahr 2004 wurde sie insbesondere unter den Diagnosen Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, Vorhofflimmern und arterielle Hypertonie dreimal stationär in der Klinik für Innere Medizin des Krankenhauses der Beklagten zu 1) behandelt, deren Chefarzt der Beklagte zu 2) ist. Wegen Harnblasenentleerungsstörungen erhielt die Patientin im Sommer 2004 einen Dauerkatheter. Ab dem zweiten stationären Aufenthalt vom 30.7.2008 bis 16.8.2008 nahm sie zur Embolieprophylaxe ASS 100 ein. Im November 2004 erlitt sie einen embolischen Infarkt im Bereich der Sehrinde des Gehirns, der in der Magnetresonanztomografie vom 22.11.2004 nachgewiesen wurde. Ab diesem Zeitpunkt stellte der in der Ambulanz der Beklagten zu 1) tätige Arzt Dr. E die gerinnungshemmende Therapie auf Marcumar um.
Am 4.1.2005 betrug der Quick-Wert 30 % und der INR-Wert 2,61. Da der Dauerkatheter auf urologische Empfehlung durch einen suprapubischen Katheter ersetzt werden sollte, führten die Patientin, der Kläger und der Beklagte zu 4) am 10.1.2005 ein Gespräch in der Ambulanz der Beklagten zu 1), dessen Inhalt zwischen den Parteien streitig ist. In der Karteikarte heißt es: "für 1.2.2005 suprapub. Katheter geplant. Noch 1 Woche Marcumar, dann absetzen, 1 Woche später Quick-Kontrolle. Möchte langfristig auch kein Marcumar mehr nehmen. Nach urolog. Eingriff wieder ASS 100." Nach dem Gespräch stellte die Patientin die Einnahme von Marcumar ein. Am 17.1.2005 suchte sie das Krankenhaus der Beklagten zu 1) auf. Der Quick-Wert lag bei 66 % bei einem INR-Wert von 1,36. Der Beklagte zu 4) empfahl daraufhin die stationäre Aufnahme zur Durchführung des urologischen Eingriffs.
Im Aufnahmebogen vom 20.1.2005 sind unter Anamnese als Hauptbeschwerden "AZ-Verschlechterung, Müdigkeit, Gehen schwer möglich, Schwindel und Dyspnoe seit einigen Tagen" genannt. Die Laboruntersuchung vom gleichen Tag ergab einen Quick-Wert von 72 % und einen INR-Wert von 1,27. Ausweislich der Patientenkurve wurde die Gabe von Heparin (Clexane 0,4 ml s.c.) für den Abend des 20.1.2005 und ab dem 21.1.2005 jeweils morgens verordnet. Eine am 21.1.2005 durchgeführte Echokardiografie zeigte insbesondere deutlich dilatierte Vorhöfe beiderseits und eine schwere pulmonale Hypertonie. Am 21.1.2005 lehnte die Patientin nach einem Aufklärungsgespräch, welches sie mit einem Arzt für Urologie führte, die Anlage eines suprapubischen Katheters ab.
Am späten Nachmittag des 21.1.2005 verschlechterte sich der Zustand der Patientin in Gegenwart des Klägers. Sie erbrach und kotete ein. Zwischen 17.30 Uhr und 17.45 Uhr verlor sie das Bewusstsein. Der Krankenpfleger Q maß einen Blutdruck von 90/60 mmHG und einen Puls von 72/min. Der Beklagte zu 3), der als zuständiger Stationsarzt seinen Dienst beendet hatte, sich aber noch im Arztzimmer aufhielt, ordnete telefonisch die Gabe einer Spritze Morphin an,...