Leitsatz (amtlich)
1. Ebenso wie bei einem Quotenkartell und reinen Preisabsprachen besteht auch bei Kundenschutzabsprachen ("Stammkundenmodell") ein Anscheinsbeweis für eine kartellbedingte Preiserhöhung.
2. Kartellanten sind zum Ersatz des aus einem Kartellverstoß entstehenden Schadens nach § 33 GWB verpflichtet; ein solcher Schaden kann auch in einem sogenannten Preisschirmeffekt ("umbrella pricing") begründet sein. Preisschirmeffekte bezeichnen Preisveränderungen von Kartellaußenseitern als Reaktion auf veränderte Marktbedingungen durch ein Kartell. Sie setzen regelmäßig die Transparenz der Marktverhältnisse und eine Marktbeobachtung durch Kartellaußenseiter voraus. Preisschirmeffekte entstehen daher typischerweise erst mit zeitlicher Verzögerung.
3. Vor dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle entstandene Kartellschadensersatzansprüche unterliegen der Verjährungshemmung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 GWB 2005, sofern sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vorschrift am 1. Juli 2005 nicht bereits verjährt waren und das zu Grunde liegende kartellbehördliche Verfahren zumindest noch nicht bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossen war.
Normenkette
GWB 1998 §§ 1, 33; GWB 2005 §§ 1, 33 Abs. 1, 3 S. 1, Abs. 4-5
Verfahrensgang
LG München I (Aktenzeichen 37 O 24526/14) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 2) wird das Teilend- und -grundurteil des Landgerichts München I vom 27. Juli 2016 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Klageantrag ist hinsichtlich der Beklagten zu 1), 2) und 3) dem Grunde nach gerechtfertigt, soweit die Schadensersatzansprüche auf den Beschaffungsvorgängen BT 2, BT 3, BT 4 und BT 7 beruhen:
- Auftragserteilung für vier Weichen mit Schreiben vom 4. Dezember 2002 über 151.065,- EUR, Rechnung vom 2. Juni 2003 auf 150.416,- EUR (BT 2);
- Auftragserteilung insbesondere für Weichen mit Schreiben vom 8. März 2005 über 371.503,25 EUR (BT 3);
- Auftragserteilung für neun Weichen mit Schreiben vom 30. Oktober 2008 über 515.031,70 EUR (BT 4);
- Auftragserteilung für Schienen mit Schreiben vom 8. März 2005 über 295.249,86 EUR (BT 7).
2. Der Klageantrag ist darüber hinaus hinsichtlich der Beklagten zu 1) und 3) dem Grunde nach gerechtfertigt, soweit die Schadensersatzansprüche auf dem Beschaffungsvorgang BT 1 beruhen:
- Auftragserteilung für zwei Weichen mit Schreiben vom 13. September 2001 über 121.976,- EUR mit Schlussrechnung vom 13. März 2002 über 121.588,44 EUR Nettopreis (BT 1).
3. Im Übrigen wird die Klage gegen die Beklagte zu 2) hinsichtlich des Beschaffungsvorgangs BT 1 und gegen die Beklagten zu 1) bis 3) hinsichtlich der Beschaffungsvorgänge BT 6, BT 8, BT 9 und BT 10 abgewiesen.
II. Im Übrigen werden die Berufungen zurückgewiesen.
III. Für die Kosten des Berufungsverfahrens gilt:
Von den Gerichtskosten haben die Klägerin 62 %, die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner 36 % und die Beklagten zu 1) und 3) als Gesamtschuldner weitere 2 % zu tragen. Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin haben die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner 36 % und die Beklagten zu 1) und 3) als Gesamtschuldner weitere 2 % zu tragen. Die Klägerin hat von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und 3) jeweils 8 %, von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) 16 %, von den außergerichtlichen Kosten der Nebenintervenientin zu 1) bis 7) 5 % und von den außergerichtlichen Kosten der Streithelferin zu 1) und 2) 16 % zu tragen. Im Übrigen tragen die Parteien, die Nebenintervenientin zu 1) bis 7) und die Streithelferin zu 1) und 2) ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Dieses Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckung kann durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des jeweils vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, wenn nicht die jeweils Vollstreckende vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
V. Die Revision wird zugelassen, soweit die Klage hinsichtlich der Beschaffungsvorgänge BT 1 und BT 2 dem Grunde nach gerechtfertigt ist.
Gründe
A. Die Klägerin macht kartellrechtliche Schadensersatzansprüche gegenüber den Beklagten wegen deren Beteiligung am "Kartell der Schienenfreunde" geltend.
Die Klägerin ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts unter anderem für den öffentlichen Nahverkehr in der Landeshauptstadt München verantwortlich und beschafft zur Erfüllung ihrer Aufgaben Gleisoberbaumaterialien, unter anderem Schienen, Weichen und Schwellen.
Die Beklagte zu 1) befasst sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Weichen, Kreuzungen und sonstigen Teilen des Oberbaus von Schienenbahnen. Sie ist Gesamtrechtsnachfolgerin der SH. GmbH, die Anfang 2011 auf die Beklagte zu 1) verschmolzen wurde. Zuvor war die Beklagte zu 1) seit 1989 zu 100 % an der SH. GmbH beteiligt. Seit 2008 gehört die Beklagte zu 1) zur B.-Gruppe, einem internationalen Bau- und Dienstleistungskonzern, der in Deutschland insbesondere über die Beklagte zu 2) im Be...